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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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gesprochen, mehr gehört, als in den vergangenen Monaten zusammen. Natürlich musste er der völlig durchgefrorenen und zitternden Frau eine warme Dusche und eine heiße Suppe anbieten, darüber hatte er gar nicht nachgedacht. Aber warum war sie danach nicht gegangen? Soweit er sich erinnern konnte, hatte er sie dazu nicht einmal aufgefordert. Weder direkt noch indirekt. Warum nicht? Warum hatte er diesen Eindringling in seine Welt nicht nur gewähren lassen, sondern ihr auch noch erzählt, wo er geboren wurde, seit wann er in Hongkong lebte, dass er geschieden war. Er konnte sich seine plötzliche Geschwätzigkeit nicht erklären. Genauso wenig wie die Aufmerksamkeit, mit der er ihr zugehört hatte. Zugehört und nachgefragt. Mehrmals sogar. Weshalb? Wollte er das wirklich alles wissen? Die plötzliche Vertraulichkeit mit dieser Fremden war ihm im Nachhinein mehr als unangenehm. Als hätte er eine unsichtbare Grenze überschritten, etwas Kostbares von sich preisgegeben, einen Verrat begangen, ohne genau zu wissen an wem oder was.
    »Als wäre Vertrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl.« Diese Sätze gingen ihm nicht aus dem Kopf. Eine Wahl haben wir immer, hatte er ihr entgegnen wollen, dann aber lieber geschwiegen. Sie war eine schöne Frau, das musste er zugeben, er sah sie im Halbdunkel vor sich sitzen, sah ihre Pagenkopffrisur, ihre für Hongkonger Frauen auffallend gebräunte Haut, ihre schlanken, aber muskulösen Arme und Hände, die langen, dünnen Finger. Er hörte ihre Stimme, eine weiche, wohltuende Stimme, die den kantonesischen Lauten viel von ihrer Aggressivität und Grobheit nahm und die ihr Englisch ungewöhnlich weich und melodisch machte. Sie klang ihm noch immer deutlich in den Ohren. Paul erinnerte sich an viel zu viele Einzelheiten dieses Tages, und das störte ihn.
    Er spürte einen Ekel in sich aufsteigen. Einen Ekel vor sich selbst. Seiner Schwatzsucht. Seinen Fragen. Seinem Interesse. Vor dieser Stimme.
     
    Als er sie am folgenden Sonntag hörte, kniete er auf seiner Dachterrasse und schnitt den eingetopften Palmen die welken Blätter heraus. Christine Wu stand vor dem Haus und rief seinen Namen. Zunächst zaghaft, dann lauter und deutlicher. Er antwortete nicht. Sie verstummte, ging ums Haus herum, wiederholte ihre Rufe, aber jetzt schon mit zweifelnder Stimme, die verriet, dass sie keine große Hoffnung mehr hatte, ihn anzutreffen. Paul bewegte sich nicht, bis sich ihre Schritte entfernten.
    Er hatte die ganze Woche überlegt, was er tun würde, sollte sie am Wochenende wiederkommen, und war sich bis zu dem Moment, in dem er ihre Stimme vernahm, nicht sicher gewesen. Mal dachte er daran, sie zu einem Tee ins Haus zu bitten und eine Kleinigkeit für sie zu kochen oder mit ihr eine Wanderung über die Insel zu unternehmen und in Sok Kwu Wan einen gedämpften Fisch zu essen. Im nächsten Moment ärgerte er sich über diese Gedanken und war fest entschlossen, Christine noch an der Tür abzuweisen, ihr deutlich zu verstehen zu geben, dass ihr Besuch alles andere als erwünscht war, heute nicht und auch nicht in Zukunft, und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr wuchs in ihm die Überzeugung, dass dies die einzig mögliche Reaktion war. Als gäbe es einen Platz in seiner Welt. Als hätte er eine Wahl.
    Trotzdem pochte sein Herz heftig, als sie vor der Tür stand und seinen Namen rief. Er versteckte sich, wusste aber nicht, wovor. Einmal versuchte er aufzustehen, über die Brüstung nach unten zu schauen, zu antworten, aber etwas hinderte ihn daran. Er war wie gelähmt. Sie entfernte sich, er fühlte eine große Erleichterung, die nicht lange währte. Dann überfiel ihn eine unsagbare Schwere und Müdigkeit, die ihn die ganze Woche über begleitete.
    Am nächsten Sonntag ging er erst am späten Vormittag ins Dorf, wenn die Fähren mit den Tagesausflüglern aus Hongkong anlegen, und setzte sich, ganz gegen seine Gewohnheit, auf die Terrasse des Sampan, von wo er die ankommenden Passagiere gut im Blick hatte. Er glaubte auf niemanden zu warten. Er glaubte einer Laune, einer spontanen Eingebung gefolgt zu sein. Als er sie schon von weitem im Pulk der Besucher sah, wusste er, dass das gelogen war.
    Sie verbrachten den Tag zusammen, einen für diese Jahreszeit ungewöhnlich milden, freundlichen Tag, an dem die Sonne von einem wolkenlosen Himmel schien und an dem bereits die Andeutung des kurzen tropischen Frühlings in der Luft lag. Sie wanderten, ohne dabei viele Worte zu verlieren.

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