Das Flüstern der Schatten
Sie tranken Tee auf seiner Terrasse, und in die Stille hinein begann Paul nach anfänglichem Zögern von sich zu erzählen. Warum er als Kind in Deutschland und Amerika gelebt hat, wollte Christine wissen. Er wiederholte die Frage mehrmals halblaut, als müsse er sich über ihre Bedeutung erst richtig klar werden.
Wo sollte er beginnen? Bei seinem Vater Aaron, diesem verrückten Juden aus New York, oder genauer Brooklyn, New York, auf diesen Unterschied hätte er bestanden, dieser merkwürdige Mann, der während des Krieges als amerikanischer Soldat nach Europa kam und sich ausgerechnet in Deutschland, in München, in die Tochter eines sozialdemokratischen Parteifunktionärs verliebte? Oder bei Heidelinde, seiner Mutter, für die diese Beziehung eine Art verspäteter Widerstand gegen die Rassengesetze der Nationalsozialisten gewesen sein muss, einen anderen Grund für die Ehe seiner Eltern hatte er nie finden können, so wenig passten sie zusammen. Wie hatte sein Vater büßen müssen für die Liebe zu einer Deutschen. Seine Familie in New York stellte ihn vor die Alternative, sich von der Frau zu trennen oder von seiner Familie verstoßen zu werden. Nachdem er sich für die Deutsche entschieden hatte, war jeder Kontakt abgebrochen und offensichtlich niemals wieder aufgenommen worden. Bei der Beerdigung seines Vaters war Paul der einzige Verwandte gewesen.
Er erzählte von jenem Tag im Frühjahr 1962, kurz nach seinem zehnten Geburtstag, als die Familie praktisch über Nacht von München nach New York zog, ohne dass jemand ihm, Paul, die Gründe dafür erklärte. Aaron Leibovitz war eines Abends nach Hause gekommen, Paul erinnerte die Szene jetzt, wo er darüber sprach, wieder sehr genau, die weiße Haut seines Vaters war noch bleicher als sonst, die lange Nase noch etwas spitzer, selbst die kräftigen Lippen hatten sich zu einem dünnen Strich verengt. Er hatte sich an den Küchentisch gesetzt und gesagt, sie würden umziehen, nach New York, nach Manhattan, in die Lower East Side. Spätestens in zwei Wochen ginge es los. Seine Frau hatte sich die Hände an ihrer Schürze abgetrocknet und war wie so oft wortlos aus dem Zimmer gegangen. Aaron Leibovitz schwieg für eine kurze Zeit, dann stand er auf, legte eine Hand auf die Schulter seines Sohnes, murmelte etwas davon, dass es ihm leid täte und er jetzt ans Packen denken müsse, und ging hinaus. Paul hätte ihm gern noch geantwortet, dass ihm das ganz und gar nicht leid tun müsse, ganz im Gegenteil sogar. Er hatte gegen einen Umzug, egal wohin, nichts einzuwenden. Mit einem jüdischen Vater und mit der Tochter eines Sozialdemokraten als Mutter hatte man es im München der Nachkriegszeit nicht unbedingt einfach. Paul wusste nicht, welche Beschimpfung in der Schule er niederträchtiger fand, »Judensau« oder »Sozischwein«, und wenn er ehrlich war, gab es bei dem Gedanken an Amerika niemanden in Deutschland, abgesehen von den Großeltern vielleicht, selbst da war er sich nicht sicher, den er vermissen würde. Heinrich, sein einziger Freund und Banknachbar in der Klasse, wäre so einer gewesen, aber der war im Jahr zuvor an einer zu spät diagnostizierten Lungenentzündung gestorben.
Christine hörte zu, ohne viele Fragen zu stellen, und vielleicht brachte sie ihn gerade dadurch zum Sprechen. Er wusste nicht, wie oder warum, vermutlich war es ihre Art, ihm zuzuhören, ohne dazwischenzureden, ohne das Gehörte zu kommentieren, es zum Anlass zu nehmen, eine eigene Geschichte zu erzählen oder mit einem Bonmot zu versehen, wie es Meredith früher immer getan hatte. Ihre Bemerkungen waren oft scharfsinnig oder komisch oder beides gewesen, und zu Beginn hatte er sie dafür bewundert, später waren sie ihm auf die Nerven gegangen und hatten ihn zum Schweigen gebracht. Er hatte sich missbraucht gefühlt. Als wären seine Erzählungen für sie nichts als eine weitere Gelegenheit, ihren Humor und ihre Intelligenz zu beweisen. Christine war anders. Sie nahm auf, was er sagte, es berührte sie, er sah es in ihren Augen, und sie konnte sein Schweigen ertragen. Das tat ihm gut und war unheimlich zugleich.
Paul dachte daran, wie viel in seiner Familie geschwiegen worden war und als wie unselig, wie belastend, wie erdrückend er dieses Schweigen empfunden hatte. Es war nie ein gemeinsames Schweigen gewesen, sondern mehr ein Brüten über Unausgesprochenes. Er erzählte von der sechstägigen Überfahrt von Hamburg nach New York, auf der die Familie noch stiller gewesen war als
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