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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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meine, ob du mit Kollegen unterwegs bist.«
    »Nein.«
    Paul erzählte ihm in ein paar Sätzen von seiner Begegnung mit den Owens. Als er fertig war, wartete er vergeblich auf eine Reaktion Davids. Er hörte Verkehrslärm und ein paar Männerstimmen im Hintergrund, aber nicht die seines Freundes. Er hörte Stühle und Tische rücken und jemanden fluchen. »David? Bist du noch dran?«
    »Natürlich, ich habe nur bezahlt und suche mir eine ruhigere Ecke zum Telefonieren. Paul, was hältst du davon, wenn du mich mal wieder besuchen kommst?«
    »Wie meinst du das?«
    »Wie ich es sage.«
    »Ich, ich, also, bestimmt gern, irgendwann«, antwortete Paul verwirrt und noch immer unsicher, ob er seinen Freund richtig verstanden hatte.
    »Du warst lange nicht mehr hier, es hat sich viel verändert.«
    »Ja, aber du weißt doch, wie ungern ich Lamma verlasse.«
    »Was hältst du von heute Abend?«
    Paul glaubte zunächst, sich verhört zu haben. Heute Abend? Was war in David gefahren?
    »Bist du verrückt geworden? Weißt du, was du da von mir verlangst?«
    »Ich verlange gar nichts, ich lade nur meinen besten Freund zu einem Abendessen ein.«
    »David, das ist sehr nett, aber Hongkong ist schon eine Überforderung für mich, wie soll ich es bis zu dir nach Shenzhen schaffen?«
    »Pass auf, wir treffen uns am Bahnhof, fahren zu mir, gehen zusammen einkaufen, ich koche für dich, und später bringe ich dich wieder bis zur Grenze und setze dich in den Zug.«
    Es klang, als würde er seinen altersschwachen und senilen Vater zu einem Besuch einladen. Paul überlegte einen Moment, und David spürte dieses Zögern genau.
    »Das schaffst du«, fügte er sofort hinzu. »Nur für ein paar Stunden. Du bist doch auch auf den Peak marschiert.«
    »Hm.« David ließ ihm keine Ruhe.
    »Wann hast du Mei das letzte Mal getroffen? Sie würde sich wahnsinnig freuen.«
    Paul schätzte Davids Frau sehr, und tatsächlich war es, abgesehen von Justins Beerdigung, Jahre her, dass er sie gesehen hatte. Es war jetzt ganz ruhig im Hintergrund, David hatte sich offenbar in eine Ecke zurückgezogen, in der ihn niemand hören konnte.
    »Außerdem gibt es ein paar Dinge, über die ich am Telefon nicht so gern reden möchte.«
    »Ist was passiert?«, fragte Paul erschrocken.
    »Im Präsidium herrscht ziemliche Aufregung. Ich habe vorhin etwas auf dem Flur gehört.«
    »Über Michael Owen?«
    »Das weiß ich nicht. Sie haben heute Morgen im Daitouling Forest Park einen Toten gefunden. Ich glaube, es ist ein Ausländer.«
     
    Hung Hom. Tai Wai. Sha Tin. Der Zug der Kowloon-Canton Railway eilte von Station zu Station. Paul saß zwischen zwei Jungen in blauer Schuluniform, die wie hypnotisiert auf ihren Gameboy starrten, und war noch immer unsicher, ob er sich nicht viel zu viel vornahm. Aber sein Freund hatte sehr bestimmt und überzeugend geklungen, und am Ende hatte Paul dessen ermutigender Stimme mehr getraut als seinem Gefühl der Schwäche. Außerdem verspürte er dieses seltsame Gefühl der Verpflichtung Frau Owen gegenüber, einer Mutter, die sich Sorgen um ihren Sohn machte. Wenn er da behilflich sein konnte, wollte er es für einen Nachmittag versuchen.
    Tai-Po-Markt. Tai Wo. Die Namen der Haltestellen klangen für Paul wie ein fernes Echo aus einem anderen Leben. Früher war er diese Strecke häufig gefahren. Nicht nur auf dem Weg zu David nach Shenzhen, auch an Wochenenden, um für ein paar Stunden der Enge, der Nervosität, dem unruhigen, lärmenden Herzschlag Hongkongs zu entfliehen. Mit Wendy Li hatte er hier Zuflucht gesucht, damals, als er glaubte, ihre Liebe hätte eine Chance. Zwei Jahre lang waren sie fast jeden freien Tag in die New Territories gefahren, waren gewandert und hatten gezeltet, sich nachts im warmen Sand der Strände Sai Kungs geliebt und bei Kerzenschein von Kindern geträumt. In Sai Kung hatten sie sich das letzte Mal gesehen, da hatte sie ihm gesagt, dass sie ihn liebe und wie dankbar sie ihm sei, weil niemand sonst auf der Welt sie so zum Lachen bringen konnte. Drei Tage später heiratete sie den Mann, den die Familie für sie ausgesucht hatte. Einen Mann, von dessen Existenz Paul nicht einmal etwas geahnt hatte. Wie lange war das her? Was war aus dem Paul geworden, der Frauen so gut zum Lachen bringen konnte? Der es genoss, sie mit einem Picknick am Strand bei Kerzenschein oder einem Frühstück im Bett zu verwöhnen? Der so leidenschaftlich lieben konnte? Wann hatte er aufgehört zu existieren? Nach Wendys Hochzeit?

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