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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Vorderfront war ganz aus Glas, und hinter den Scheiben saßen mindestens zwei Dutzend grell geschminkte junge Frauen in pinkfarbenen Kleidern, deren Augen sich auf Paul richteten. Sie erinnerten ihn an die großen Stoffbären seiner Kindheit, die es bei den Losverkäufern auf Coney Island als Hauptgewinne gab. »Kommen Sie rein, mein Herr«, rief der Mann am Pult. »Sie gehören Ihnen, mein Herr. Sie haben die freie Auswahl. Kommen Sie rein, mein Herr.«
    David schritt weiter, ohne dem Mann die geringste Beachtung zu schenken.
    »Was war das?«, fragte Paul.
    »Möchtest du noch ein paar gefüllte Dumplings vorweg?«, fragte David, statt eine Antwort zu geben.
    »Von mir aus gern«, sagte Paul, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Er konnte nicht glauben, wie sehr sich Davids altes Viertel verändert hatte. Wo waren die vielen Lebensmittelgeschäfte geblieben? Wo der begnadete Schneider, der schneller einen Knopf annähte, als Paul zur Bezahlung einen Yuanschein aus der Hosentasche kramen konnte? Wo der Zahnarzt, vor dessen zur Straße offenen Praxis immer eine Vitrine mit gezogenen Zähnen stand?
    Sie bogen in eine der schmalen Seitengassen, in der sie früher immer Obst und Gemüse gekauft hatten. Jetzt war sie voller Friseure und Schönheitssalons, vor denen nur spärlich bekleidete Frauen hockten, die rauchten, aßen, schwadronierten oder ihre Nägel lackierten. Die Jüngeren rekelten sich, sobald sie Paul sahen, oder streckten ihm kurz ihre Brüste entgegen. Die anderen blickten ihn nur gelangweilt an. Sie waren erfahren genug, dachte er, um sein Desinteresse sofort zu sehen. An einer Hauswand hing ein Plakat, das für Brustimplantate warb, die angeblich aus Amerika stammenden Modelle Bless you und Glorified Beauty und Always Number One. Daneben klebte ein Anschlag der Shenzhener Polizei für Notfälle mit der extra groß gedruckten Telefonnummer des Betrugsdezernats.
    David hatte sich mittlerweile mit der Besitzerin des letzten verbliebenen Gemüseladens in ein Gespräch über das beste Rezept für eine Suppe aus bitteren Melonen vertieft. Paul zog ihn am Ärmel. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der seinen Vater ungeduldig von einem Gespräch mit dem Nachbarn wegzerrte.
    »Was ist denn hier passiert?«, fragte er flüsternd, als die Gemüsefrau wieder in ihrem Laden verschwunden war.
    »Was soll passiert sein?«
    »Was ist aus deinem Viertel geworden?«
    David blieb stehen, neigte den Kopf leicht zur Seite und schaute Paul an, als verstünde er immer noch nicht, wovon sein Freund sprach.
    »Was erstaunt dich so? Möchtest du gern zum Friseur? Soll ich dir einen Termin machen. Ich bekomme hier Stammkundenrabatt.«
    Paul blickte ihn fassungslos an. Nur ein ganz leichtes, kaum sichtbares Lächeln um den Mund verriet ihm, dass David ihn sehr wohl verstanden hatte. Dieser versteckte Sinn für Humor war eine der Eigenschaften, die Paul besonders an ihm schätzte. Es hatte eine Weile gedauert, bis Paul ihn entdeckt hatte, und selbst jetzt, nach so vielen Jahren, gab es immer wieder Situationen wie diese, Momente, in denen er auf Anhieb nicht sicher war, ob David ernst meinte, was er sagte.
    »Nein, danke.«
    »Gut. Sie sollen auch nicht besonders sein, jedenfalls nicht die in meinem Häuserblock.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Was ich so höre.«
    »Und wo sind der Schuster und der Zahnarzt geblieben?«
    »Muss ich dir jetzt die Gesetze des Kapitalismus erklären?«, fragte David zurück und lachte laut. »Die Mieten haben sich verdreifacht, ja, vervierfacht. Die Bordellbesitzer können das bezahlen, die anderen nicht. In unserem Haus sind wir die letzte normale Familie. Die ganzen ersten drei Stockwerke sind ein Puff.«
    »Und Kommissar Zhang mittendrin?«
    »Obendrauf, wenn du es genau nimmst.«
    »Was sagt Mei dazu?«
    »Wir haben unserem Vermieter schon angeboten auszuziehen. ›Auf keinen Fall, Genosse Zhang, auf keinen Fall. Bitte bleiben Sie‹, hat er geantwortet und sicherheitshalber gleich die Miete um dreißig Prozent reduziert. Wegen möglicher Lärmbelästigung. Das hat Mei sofort überzeugt, du kennst meine Frau ja. Als er hörte, dass ich Buddhist bin und auf dem Dach meditiere, hat er sogar ein Sonnensegel anbringen lassen. Ich vermute, sie fühlen sich sicherer mit einem Polizisten im Haus. Jedenfalls werden nicht nur ich und Mei, sondern auch unser Sohn immer sehr höflich gegrüßt und mit großem Respekt behandelt. Wenn wir auszögen, müssten wir an den Stadtrand ziehen.

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