Das Flüstern der Schatten
Während seiner Ehe mit Meredith? Nach Justins Tod? »Das muss in einem anderen Leben gewesen sein«, war früher eine seiner Lieblingsfloskeln. Wie viele Leben hat man? Zwei? Drei? Oder doch nur eins?
Er schaute aus dem Fenster. In Tai Po hatten sie die Wohnsiedlungen hinter sich gelassen und fuhren jetzt durch die hügelige, wenig besiedelte und dicht bewaldete Landschaft der New Territories. Zwischen dem satten Grün tauchten hin und wieder winzige Bauernhöfe auf. Wellblechhütten, Gehege mit Enten, Hühnern und Gänsen, kleine Reisfelder. Wie vor dreißig Jahren.
Der Zug verlangsamte seine Fahrt, aus Reisfeldern wurden in der Kürze eines Wimpernschlages Stacheldrahtzäune,
Straßen, Autos, Betonwände und Fassaden, die in den Himmel ragten. Hochhaus stand neben Hochhaus, wie Bäume in einem dicht gewachsenen Wald. Die Bahn hielt mit einem Ruck, die Menschen drängelten mit einer Wucht hinaus, als dürfe nicht jeder aussteigen, als müsste zurückfahren, wer nicht in wenigen Sekunden den Waggon verlassen hatte.
Paul folgte der Masse die Treppen hinauf, die Menschen hinter ihm drückten und schoben ihn durch mehrere fahl beleuchtete Gänge bis zu einer automatisierten Passkontrolle. Dort steckte er seine Hongkong Identity Card in ein Gerät und durfte Sekunden später ein Drehkreuz passieren. Er ging durch die Ankunftshalle auf den Vorplatz des Bahnhofs und rief David an.
»Du bist schon da?«, fragte der erstaunt. »Ich habe noch etwas im Büro zu tun. Willst du warten, oder wollen wir uns gegen 16 Uhr im Starbucks Café treffen? Das ist um die Ecke von unserer Wohnung. Danach gehen wir einkaufen und ich koche etwas. Einverstanden?«
»Ja. Wo ist dieses Café?«
»In der Citic City Plaza. Das ist das neue große Einkaufszentrum.«
»Ist das weit vom Bahnhof?«
»Nein, gar nicht. Du nimmst die neue U-Bahnlinie 1 bis zur Station Ke Xue Guam. Dort Ausgang D, das ist die Südseite der Shennan Zhong Road. Du gehst die Straße hoch bis zum Einkaufszentrum. Rechts kommt Seibu, das japanische Kaufhaus, links die Chill-out Lounge. Du siehst Kentucky Fried Chicken, Pizza Hut und...«
»David, nimmst du mich auf den Arm?«
»Wieso?«
»Chill-out Lounge?«
»Du warst lange nicht hier.«
»Jahre nicht.«
David seufzte. »Willst du nicht doch lieber am Bahnhof auf mich warten?«
Paul überlegte kurz: »Wahrscheinlich ist das besser, ja.«
»Dann warte auf dem Vorplatz auf mich. In einer Dreiviertelstunde bin ich dort.«
Paul setzte sich auf eine Bank und überlegte, wann er das erste Mal diese Grenze überquert hatte. Es war wohl im Sommer 1980 gewesen, kurz nachdem Deng Xiaoping dieses unbedeutende Nest zu einer Sonderwirtschaftszone erklärt hatte. Damals musste er die Lowu-Brücke noch zu Fuß überqueren, lieh sich am Bahnhof ein Fahrrad, es gab keine Taxis, nicht einmal Buslinien, und radelte durch die vom Monsunregen aufgeweichten, mit Pfützen gesprenkelten Straßen, vorbei an Schweinefarmen und primitiven einstöckigen Häusern. Shenzhen war nicht mehr als eine Kleinstadt, die vom Fischfang und Reisanbau lebte. Die Passanten trugen blaue oder grüne Maoanzüge, er sah das Bild deutlich vor sich, ihre überraschten, oft verstörten Blicke begleiteten ihn, wohin er auch fuhr. Sobald er anhielt, bildete sich eine Menschenmenge, er wurde bestaunt und beglotzt, angefasst und gestreichelt. Zwei Kinder zogen an den schwarzen Haaren, die auf seinen Oberarmen wuchsen. Er blickte in forschende, manchmal verwirrte Gesichter, die ihn keine Sekunde aus den Augen ließen. Als er eine öffentliche Toilette benutzen wollte, folgten ihm die Neugierigen bis zur Tür und warteten dann draußen gespannt, was passieren würde. In dem Häuschen hockten mehrere Chinesen mit heruntergelassenen Hosen über Löchern im Fußboden, und Paul erinnerte sich gut an die lauten Schreie des Entsetzens, die sie ausstießen, als sie den Fremden hereinkommen sahen. Zwei der Männer wären vor Schreck fast hintenüber in die Jauchelöcher gefallen. Das Gebrüll wirkte auf die Schaulustigen wie ein Marschbefehl. Sie drängten durch die kleine Tür, und innerhalb kürzester Zeit war Paul umringt von Dutzenden von Menschen in diesem nach Pisse und Scheiße stinkenden Raum. Zunächst hielten sie noch eine Armlänge Abstand, aber je mehr hereinzwängten, desto geringer wurde die Distanz. Bald standen sie so dicht vor ihm, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte. Er versuchte ein Lächeln, das unbeantwortet blieb. Sie raunten und
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