Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
Vom Netzwerk:
Hongkong und Amerika für die eine oder andere Schlagzeile sorgen würde. Was meinst du?«
    Paul überlegte. »Vermutlich, zumindest in Hongkong. Was weißt du über den Toten?«
    »Ausländer, westlicher Ausländer auch noch. Ungefähr dreißig Jahre alt. Ein Meter achtundachtzig groß. Blonde Haare. Identität bisher nicht festgestellt, er hatte keine Papiere bei sich. Todesursache unbekannt, den Obduktionsbericht bekommen wir morgen früh. Zwei Gärtner fanden ihn heute Vormittag im Daitouling Forest Park am Ufer des kleinen Sees. Angeblich mit eingeschlagenem Schädel, aber das ist ein Gerücht. Bis jetzt konnte ich mit keinem der beiden Männer reden.«
    »Geht ihr von einem Mord aus?«
    »Darüber ist noch nicht entschieden. Es würde mich nicht wundern, wenn es morgen offiziell heißt, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Sonst wäre das eine ziemlich unangenehme Geschichte, und wir hätten eine Menge Ärger am Hals. Wer möchte das schon?«
    »Gehörst du zu den Ermittlern?«
    »Keine Ahnung. Du weißt ja, dass sie mich nicht mehr gern einsetzen. Außerdem gibt es ja noch nicht viel zu ermitteln.«
    »Und wenn es wirklich ein Mordfall ist?«, fragte Paul.
    »Dann werde ich wohl den einen oder anderen Hilfsdienst leisten dürfen. Passt denn die Beschreibung auf diesen Michael?«
    Paul dachte angestrengt nach. »Keine Ahnung. Ich habe vergessen, die Owens zu fragen, wie ihr Sohn aussieht.«
    David stöhnte laut auf. »Ein Kommissar wird aus dir nicht mehr.«
    »Aber das Alter kommt hin. Sein Vater ist groß und hat blonde Haare und...« Paul verstummte. Er dachte an Elizabeth Owen. Er dachte an ihren Schwächeanfall, an ihre Tränen, an ihren sprachlos daneben sitzenden Mann, und zum ersten Mal begriff er, dass dieser Tote Michael Owen sein konnte. Er sah das von Angst und Schmerz verzerrte Gesicht der Mutter vor sich. Er schüttelte den Kopf, als könne er dieses Bild so vertreiben. Er spürte eine unbestimmte Angst in sich wachsen, die mit jedem Atemzug größer wurde. Er wollte so schnell wie möglich raus aus dieser Blechröhre.
    »Paul?« David hatte offenbar bemerkt, wie unwohl er sich fühlte.
    »Ja?«
    »Eine Station noch. Das schaffst du. Gleich gehen wir einkaufen und dann koche ich. Was hältst du von extra scharfem Ma-po Tofu, süß-sauren Auberginen, gedämpftem Pok Choy, frittierten bitteren Melonen und zum Schluss eine Tofu-Suppe?«
    »Klingt wunderbar.«
     
    Sie stiegen aus und quälten sich eine lange Treppe hoch zurück ans Tageslicht. Es war so grell, dass Paul sich kurz eine Hand über die Augen hielt. Staubwolken hingen in der Luft, und fast hätte ihn ein Betonmischer überfahren, der, ohne auf Fußgänger zu achten, auf eine Baustelle eingebogen war. Dieser Ort hatte nichts mit der Stadt aus seiner Erinnerung zu tun. Wann genau hatte er David das letzte Mal besucht? Noch zusammen mit Justin, vor dessen Erkrankung, also vor vier oder fünf Jahren. Schon damals hatte er die Auswirkungen des Booms zu sehen geglaubt, so rasant hatte sich Shenzhen verändert. Jetzt erkannte er diesen Ort kaum wieder. Eine U-Bahn, noch breitere Straßen, noch mehr Autos, noch höhere Häuser, noch mehr Menschen. 50.000 waren es bei seinem ersten Besuch gewesen, wie viele waren es inzwischen geworden? Sieben Millionen? Zehn? Zwölf?
    Die Citic City Plaza war nicht zu übersehen. Es war ein moderner grauer Klotz aus Stahl, Beton und Glas, wie Paul ihn aus Hongkong kannte. Selbst den Springbrunnen davor hatten die Architekten kopiert. Paul und David durchquerten das Einkaufszentrum und die Straße dahinter, an der die Wohnung des Kommissars lag. Allmählich kam Paul das Viertel wieder etwas vertrauter vor, an der Ecke lag das kleine moslemische Nudelsuppen-Restaurant, in dem sie oft gesessen hatten. Wie früher stand ein junger, mit Mehlstaub bedeckter Mann davor, knetete einen Ballen Teig und formte daraus ohne Hast frische, weiße Nudeln. Auch der Schuster gegenüber war noch da. Daneben hatte ein neuer Laden aufgemacht. Er war hell erleuchtet und mit roten Lampions geschmückt. Am Eingang warteten zwei junge Frauen in langer, dunkelroter Abendgarderobe, vor der Tür stand ein gut gekleideter Mann hinter einem Stehpult. Paul dachte zunächst, es handele sich um die Vorderseite eines Restaurants, dessen Speisesäle im hinteren Teil liegen, und der Mann wäre für das Valet-Parking zuständig. Aber es gab keinen hinteren Teil, sondern nur eine schmale Marmortreppe, die in die oberen Stockwerke führte. Die

Weitere Kostenlose Bücher