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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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murmelten. Paul beherrschte damals das Kantonesische noch nicht so gut, dass er jeden Satz verstanden hätte, aber er hörte deutlich die Worte »Fremder Teufel«, »Spion« und »Klassenfeind«. Nie würde er vergessen, wie aus den Gesichtern allmählich das Erstaunen und die Neugierde wichen und einem dunklen Misstrauen Platz machten. Er wollte sich einen Weg Richtung Ausgang bahnen, aber die Männer vor ihm standen zu dicht gedrängt. Selbst wenn sie es gewollt hätten, sie hätten ihm keinen Platz machen können. Er schwitzte. Er wollte weg, bloß raus hier. Plötzlich hörte er eine laute, tiefe Stimme, die die anderen verstummen ließ. Im Türrahmen stand ein Polizist. Er schaute sich um, und nachdem er Paul entdeckt hatte, forderte er in barschem Ton jeden, der nicht hier war, um die Toilette zu benutzen, auf, den Raum auf der Stelle zu verlassen. Nach einiger Zeit waren Paul und er allein.
    Sie standen sich schweigend gegenüber und musterten einander. Der Polizist trug eine schlecht sitzende, für seinen schmächtigen Körper viel zu große Uniform. Sie mussten ungefähr gleichaltrig sein, Paul fielen die weichen Gesichtszüge des Chinesen auf, die nicht zu der rauen, strengen Stimme passten.
    »Jetzt können Sie in Ruhe...«, sagte er und drehte Paul den Rücken zu. »Ich hoffe, Sie brauchen kein Toilettenpapier. Es gibt nämlich keines.«
    So waren sich Paul Leibovitz und Zhang Lin, von Paul später David genannt, zum ersten Mal begegnet, und daraus war eine nun schon über 25 Jahre währende Freundschaft entstanden. Es gab Zeiten, da fuhr Paul fast wöchentlich nach Shenzhen, und später, als es für Chinesen leichter wurde, nach Hongkong zu reisen, besuchte auch David seinen Freund mehrmals im Jahr. Nach Justins Tod war er der einzige Mensch, den Paul um sich ertrug. David kam regelmäßig alle sechs Wochen für einen Tag nach Lamma. Sie unternahmen nicht viel, saßen auf der Terrasse, tranken Tee, spielten Go oder Schach oder hörten Musik. Im ersten Jahr kochte David am Nachmittag häufig einen großen Topf Suppe, von der Paul die ganze folgende Woche zehrte. David konnte zuhören und ebenso gut schweigen. Er war klug genug zu wissen, dass es keinen Trost gab, und so ehrlich, gar nicht erst zu versuchen, diese Einsicht zu überspielen. Dafür war ihm Paul unendlich dankbar. Sonst hätte er ihn bitten müssen, nicht wiederzukommen. An manchen Tagen sprachen sie nicht mehr als ein paar Sätze. Trotzdem war er mit absoluter Verlässlichkeit sechs Wochen später wieder da.
    Sein letzter Besuch lag schon über einen Monat zurück, und bei dem Gedanken, ihn gleich wiederzusehen, überkam Paul eine wohltuende Gelassenheit. Er stand auf, hielt nach seinem Freund Ausschau, und kurz darauf sah er ihn von Weitem auf sich zukommen. Er humpelte ein wenig, seine blaue Jacke und seine Schuhe waren abgewetzter, als es sich für einen Kommissar gehörte, auf seiner Unterlippe klebte eine erloschene Zigarette. Sie umarmten sich kurz, und Paul konnte in Davids Blick erkennen, dass der genau verstand, was dieser Besuch für ihn bedeutete. Dieses gegenseitige Verständnis, das keiner großen Worte oder Gesten bedurfte, hatte er zuvor noch mit keinem Menschen erlebt.
    »Immer schön, dich zu sehen. Heute und hier ganz besonders«, begrüßte ihn David und lächelte. »Hast du schon gegessen? Wollen wir einkaufen?«
    »Gern.«
    Sie überquerten den Bahnhofsplatz und gingen zur U-Bahn-Station. Sie war erst vor einigen Wochen eröffnet worden, und alles war noch so leer und sauber, dass Paul den Eindruck hatte, sie befänden sich auf einer Probefahrt. Sie hatten den letzten Waggon fast für sich allein. Erschöpft ließ David sich in einen der blanken Aluminiumsitze fallen.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, was bei uns los ist«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Alle laufen so hektisch herum, als wären sie aufgefordert worden, öffentliche Selbstkritik zu üben. Oder ihre Bankkonten offenzulegen. Selbst das Büro des Bürgermeisters hat schon angerufen.«
    »Warum?«
    »Warum? Der tote Ausländer macht alle verrückt. Nehmen wir mal an, er ist nicht einfach ein Tourist, der bei einem Spaziergang bedauerlicherweise an Herzversagen gestorben ist. Nehmen wir an, er ist ein Investor, ein Unternehmer aus Amerika, der in China Lampen, Gummistiefel oder Weihnachtsmänner fertigen lässt und der gewaltsam ums Leben kam. Das wäre...« Er suchte nach Worten. »Das gab es bei uns noch nicht, und ich könnte mir denken, dass das in

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