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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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stiller Triumph des Lebens über den Tod. Der Liebe über den Hass. Der Schönheit über das Hässliche. Der Güte über die Bosheit. Und je mehr Mühe er sich gab, je besser es schmeckte, je mehr der Gaumen gereizt, die Nase verwöhnt, der Magen gefüllt wurde, desto süßer war dieser Triumph. Als wenn es bei einer Prise Pfeffer nur auf den Geschmack ankäme. Als wenn Koriander, Chili, Anis, Kümmel, Ingwer, Nelken nur Gewürze wären. Als wenn das Leben so einfach wäre. Er hatte gesehen, wie Rotgardisten den alten Hu beschimpften, nur weil er seiner faden Wasserbrühe mit heimlich aufbewahrtem Pfeffer etwas Geschmack geben wollte. Die Pfefferkörner waren angeblich der Beweis seiner dekadenten, bourgeoisen Vergangenheit und seiner Unbelehrbarkeit. Die Suppe hatte für alle gleich zu schmecken. Was er glaubte, wer er sei? Er solle das ja nicht noch einmal wagen. Und was machte der irre Alte? Was machte dieser Idiot, der vor der Revolution als Koch in Shanghai in einem französischen Restaurant gearbeitet hatte? Er würzte! Er würzte wieder, er würzte, ohne Reue zu zeigen. Als wäre Pfeffer eine Form des Widerstandes gegen Barbarei. Die Rotgardisten hatten ein Auge auf ihn und prügelten auf ihn ein, bis er sich nicht mehr bewegte, und das ganze Dorf schaute zu, die Kinder und die Alten, die Männer und die Frauen, und niemand kam zu Hilfe, stattdessen brüllten sie »Bestraft den Konterrevolutionär Hu!«, »Keine Gnade für den Verräter Hu!«, und der 16jährige David stand dabei und schrie mit, und wenn sie ihn aufgefordert hätten, ihn zu schlagen, hätte er es getan. Drei Pfefferkörner. Wem sollte er das erklären? Totgeschlagen wegen drei lausiger schwarzer Pfefferkörner. Wer würde das je verstehen?
    Erst als die Speisen auf dem Tisch standen, konnte er anfangen sich zu entspannen. Die weißen Tofuwürfel lagen wie kleine Kostbarkeiten im satten, öligen Rot der Chilisoße. Die Auberginen hatten genau die richtige, cremig-weiche Konsistenz, er sah es sofort, der Pok Choy, leicht mit Knoblauch gedämpft, hatte seine Frische behalten, er schmeckte sie mit den Augen, fühlte sie auf der Zunge, bevor er das Gemüse überhaupt probiert hatte. Und die Melone! Die vielen Schattierungen ihres Grün! An manchen Stellen zart und hell, fast durchsichtig, an anderen dunkel und saftig, wie die Farbe der Reisfelder kurz vor der Ernte. Er liebte ihre Bitterkeit. Er liebte diesen dominanten Geschmack, der sich nicht anbiederte, der sich nicht sofort vom nächstbesten Aroma vertreiben ließ, der in seinem Mund nachklang, bis die Wucht des Sichuanpfeffers ihn endgültig überlagerte.
    Hu wäre stolz auf ihn. Er wartete, bis alle anderen am Tisch probiert hatten, und nahm sich immer als Letzter. Paul stöhnte nach wenigen Bissen genüsslich auf. »Unglaublich. Wunderbar.«
    Mei nickte zustimmend. »Jetzt weiß ich wieder...«
    »... warum du mich geheiratet hast«, vollendete David ihren Satz. Sie rollte mit den Augen. Ahnte sie, wie viel ihm diese kleinen Vertrautheiten bedeuteten?
    David probierte ein Stück vom Mapo-Tofu, eine seiner Lieblingsspeisen. Sofort füllte die rauchige, erdige Würze seinen Mund aus, ihr folgte der typische Geschmack des Sichuanpfeffers, der Zungenspitze und Lippen zunächst betörte, dann ein wenig betäubte und dessen einmalige Schärfe er im Rachen und bis in die Ohren spürte.
    »Warum machst du eigentlich kein Restaurant auf?«, fragte Paul mit vollem Mund.
    David antwortete mit einem kurzen Schmunzeln. Es war eine rhetorische Frage, ein Ritual, und die Antwort war heute wie immer: »Zu gefährlich.«
    Sie lachten.
    Mei und Paul hielten es für einen Scherz und dachten an unzufriedene Kunden, an Betrunkene, an randalierende Gäste und Polizisten, die Schutzgeld fordern. David dachte an den alten Hu und daran, wie schnell sich in China die Zeiten ändern können.
    »Gefährlich hin oder her, zumindest würdest du da anständig verdienen«, sagte Mei, nahm sich noch ein Stück Aubergine und blickte ihn dabei provozierend an.
    Sie hatten sich heute Morgen beim kurzen Frühstück mal wieder heftig über Davids Berufsauffassung und seine kümmerlichen Chancen auf eine späte Karriere gestritten. David Zhang war zwar seit über 25 Jahren Mitglied der Shenzhener Polizei, aber in dieser Zeit mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit bei Beförderungen übergangen worden. Dreimal hatte man ihn einen Rang höher gestuft, bis er es zum einfachen Inspektor bei der Mordkommission gebracht hatte, aber jede

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