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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Eine Wohnung in der Innenstadt könnten wir uns nicht mehr leisten. Das wollen wir nicht, also bleiben wir hier.«
    »Wie viel verdient ihr daran?«, wollte Paul wissen.
    Sein Freund schaute ihn lange an ohne zu antworten. Schließlich fragte er: »Wen genau meinst du mit ihr?«
    Davids Ton versetzte Paul einen Stich. Wie hatte er seine Frage so unbedacht formulieren können?
    »Ich habe mit ›ihr‹ nicht dich persönlich gemeint, das weißt du«, sagte Paul fast entschuldigend.
    David lächelte. Es war eines dieser Lächeln, das irgendwo tief im Inneren begann, sanft die Mundwinkel anhob, schnell die Wangen erreichte, die Augen, bis das ganze Gesicht strahlte. Ein Lachen, so ruhig und gelassen, dass Paul ihn darum beneidete.
    »Ich weiß nicht, wie viel ›wir‹ daran verdienen. Wenn ich mir die Mobiltelefone, Armbanduhren, Wohnungen und Autos meiner Kollegen und Vorgesetzten anschaue, wird es nicht wenig sein. Aber: Wenn du Wein trinkst, vergiss die Quelle nicht.«
    »Altes chinesisches Sprichwort?«
    David nickte. »Eine modernisierte Fassung. ›Updated‹, wie mein Sohn sagen würde.«
    Sie gingen weiter zum Schlachter, und während David Hackfleisch für den Ma-Po Tofu kaufte, wartete Paul vor der Tür und beobachtete, wie eine Prostituierte mit einem Kunden in dem Hinterzimmer eines Friseursalons verschwand. Alles, was er in den vergangenen Minuten gesehen hatte, war illegal. Aber niemand gab sich auch nur die geringste Mühe, den Schein der Gesetzestreue, das Gesicht zu wahren. Warum unternahm die Polizei nichts dagegen? Wo war der Parteisekretär dieses Viertels?

VII
    David würfelte mit flinken Bewegungen die Auberginen, füllte sie in eine Schüssel und streute reichlich Salz darüber. Er nahm ein kleineres Messer und hackte frischen Ingwer und Knoblauch in winzige Stückchen, zerteilte zwei Bund Frühlingszwiebeln, entkernte mit ein paar Handgriffen die Melone, schnitt den Tofu klein, holte aus dem Regal mehrere Gläser mit eingelegten Chilischoten, Chilipaste und fermentierten schwarzen Bohnen. Nebenbei röstete er Sichuanpfeffer in einer Pfanne. Anschließend zermahlte er ihn mit langsamen, rhythmischen Bewegungen in einem Mörser zu feinem Pulver. Paul stellte in einer Ecke der kleinen Küche einen Klapptisch und drei Hocker auf, setzte sich und beobachtete jede Bewegung genau.
    Vor vielen, vielen Jahren hatte er auf einer Liste »Dinge, die das Leben lebenswert machen« ›David beim Kochen zuschauen plus das anschließende Essen‹ an eine der ersten Stellen gesetzt. Er hatte noch niemanden gesehen, der mit so viel Liebe und Hingabe Essen zubereitete.
    David sprach in der Küche kaum ein Wort. Er beantwortete keine Fragen, er hörte sie nicht einmal, ankommende Gäste würdigte er keines Blickes, er war versunken in einer Welt aus Gerüchen und Gewürzen, aus Kräutern, Ölen, Pasten, aus Dämpfen, Messern und Woks. Mei und Paul behaupteten, Kochen sei für ihn nur eine andere Form des Meditierens, und er ließ sie seit über zwanzig Jahren in diesem Glauben. Es gab Dinge in seinem Leben, über die konnte er nicht reden, auch mehr als dreißig Jahre später nicht. Weder mit seinem besten Freund noch mit seiner Frau. Wie sollten sie verstehen, dass ein Essen niemals nur eine einfache Mahlzeit für ihn war? Dass er jeden beneidete, für den es so einfach war. Dass er sich kein Stück Tofu, keinen Hühnerfuß, nicht mal ein winziges Reiskorn in den Mund schieben konnte, ohne an Li, an Wu, an Hong und all die anderen aus seiner Arbeitsbrigade zu denken, die, wie er, als Kinder während der Kulturrevolution in die Berge geschickt wurden, um den Bauern bei der Ernte zu helfen, und die dort sechs verdammt lange Jahre arbeiten mussten. Sechs Jahre, in denen sie glaubten, von ihren Eltern, vom Rest der Welt vergessen worden zu sein, in denen sie sich fast ausschließlich von Reis ernährten und wenn der nicht reichte, weil die unerfahrenen Städter bei der Ernte keine Hilfe, sondern eine Last waren, Gras, Blätter und Borke fraßen. Sechs Jahre, in denen kein Sommer und kein Winter verging, ohne dass nicht einer von ihnen an Entkräftung starb, elendig verhungert in einer Natur, in der es doch für alle mehr als genug gab, wenn man sie nur richtig nutzte. Sechs Jahre, in denen er manchmal tagelang an nichts anderes denken konnte als an die gefüllten Teigtaschen, die seine Mutter zubereitete. Nicht an seine Mutter, an die Teigtaschen dachte David Zhang.
    Für ihn war jedes Essen ein Fest. Ein kleiner,

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