Das Flüstern der Schatten
kein Weinen, das sie trennte, keines, das ihr Angst machte. Es war ein Weinen, das sie zu kennen glaubte, eines, das ihn zurückbrachte zu ihr, wo immer er gewesen sein mochte.
Sie frühstückten auf dem Zimmer. Saßen in weiche Frotteebademäntel gepackt mit verschränkten Beinen auf dem Bett, tranken frisch gepressten Orangensaft, bestrichen die noch warmen Brötchen des anderen mit Marmelade, waren vorsichtig mit ihren Worten und Gesten. Zwei Menschen, die wissen, wie zerbrechlich jedes Glück ist.
Irgendwann richtete er sich auf, räumte das Besteck und Geschirr beiseite, küsste sie auf die Stirn, den Hals, den Mund, bis sie zusammen langsam aufs Bett fielen. Sie lagen Kopf an Kopf, Nase an Nase. Er sah, wie sich sein Gesicht in ihren Augen spiegelte.
»Du bedeutest mir viel.« Es klang nicht so zärtlich, wie er es hatte sagen wollen. Aber es war das, was er meinte, und es war sehr viel.
»Du mir auch. Ich habe Angst um dich.«
»Musst du nicht.«
»Versprichst du mir etwas?«
»Was?«
»Erst versprechen.«
»Erst versprechen? Ohne zu wissen was? Wo gibt es denn so was?«
Sie kicherten.
»Vertraue mir«, sagte sie mit dunkler, verstellter Stimme, die ihn an irgendjemand erinnerte. Vertraue mir. Die Schlange Kah aus dem Dschungelbuch sprach so. Er hielt den Atem an. Wie war sie darauf gekommen? Warum ausgerechnet diese Worte in diesem Tonfall? Sie durfte jetzt nichts mehr sagen. An das Dschungelbuch wollte er nicht erinnert werden. Es war Justins Lieblingsfilm gewesen, sie hatten das Video so oft zusammen angeschaut, im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzend oder im Bett, dass Justin die Dialoge fast auswendig kannte. Das Dschungelbuch würde jetzt alles kaputt machen. Alles auf dieser Welt, dachte er, hängt an einem dünnen Faden. Alles Glück an einem entsetzlich dünnen Faden, der jeden Moment reißen kann. Jeden Augenblick. Man muss ihn nicht einmal berühren. Er legte ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen und sagte ganz leise: »Ich verspreche.«
»Du versprichst mir, dass du wegen dieser Geschichte nicht mehr nach Shenzhen fährst?«
Paul nickte.
»Was man verspricht, muss man auch halten, richtig?«, vergewisserte sie sich.
»Was man verspricht, muss man auch halten«, wiederholte er.
Paul brachte Christine ins Büro. Mit ihrer Hilfe konnte er an diesem Morgen sogar die überfüllte U-Bahn aushalten. Sie standen Körper an Körper gepresst. Noch nie hatte er sie so strahlen sehen. Ihr Anblick genügte ihm, um die Enge im Waggon, die ihn sonst ängstigte, mit Gleichmut zu ertragen.
Sie verabredeten sich zum Mittagessen, der Abschied fiel ihm schwer, auch wenn er nur für wenige Stunden war.
Er überlegte, wann er sich bei Elizabeth Owen melden sollte. Spätestens seit er sie schlafend in der Wohnung ihres Sohnes zurückgelassen hatte, verspürte er ihr gegenüber ein Gefühl der Verantwortung, das er sich selbst nicht recht erklären konnte. Mit welchem Recht verheimlichte er ihr, dass in Shenzhen ein Toter lag, der aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Sohn war? War es nicht seine Pflicht, sie zu informieren? War es für sie nicht egal, von wem sie die Nachricht erhielt? Ob von einem Hongkonger Polizisten, von einem Konsularbeamten oder von ihm, Paul Leibovitz, der aus eigener Erfahrung wusste, was der Tod eines Kindes für dessen Eltern bedeutete? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr wuchs in ihm die Überzeugung, dass er sich vor dieser Verantwortung nicht drücken konnte, dass sie ein Schicksal teilten, dass es keine Rolle spielen durfte, ob ihm die Familie sympathisch war oder nicht, dass ihm das, was er erlitten und verloren hatte, gar keine andere Wahl ließ. Er wählte ihre Nummer.
Ihre Stimme klang eher aufgeregt als besorgt oder verängstigt.
»Herr Leibovitz, ich wollte Sie auch gerade anrufen. Waren Sie gestern oder heute Morgen noch einmal in der Wohnung unseres Sohnes?«
»Wie kommen Sie darauf? Was sollte ich da? Ich habe doch gar keinen Schüssel.«
»Mein Mann dachte, vielleicht hat der Hausmeister einen und hätte Sie hereingelassen. Aber ich habe ihm gleich gesagt, dass das Unsinn ist. Was für einen Grund gäbe es für Sie, ohne uns in diese Wohnung zu gehen.«
»Warum fragen Sie?«
»Weil wir gerade in der Wohnung sind und die plötzlich so unordentlich ist. Irgendjemand muss in den vergangenen Stunden hier gewesen sein und etwas gesucht haben. Ich bin mir sicher, dass es Michael war, aber warum hat er sich nicht bei uns gemeldet? Er hat doch unsere
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