Das Flüstern der Schatten
Gefühl, das Herz der Welt stünde still und nichts, aber auch gar nichts könne es wieder zum Schlagen bringen. Die Grimassen, die der Tod auf die Gesichter der Lebenden zeichnete, verfolgten ihn oft bis in die Nächte. Selbst nach zwanzig Jahren wusste er noch nicht, wie er sich da verhalten sollte. Wegschauen? Hilfe anbieten? Die eigene Sprachlosigkeit mit einem Wortschwall überdecken? Seine Kollegen sprachen in diesen Augenblicken immer von Strafe, von Rache oder Gerechtigkeit und versicherten wieder und wieder, den Täter zu jagen und nicht aufzugeben, bis er und etwaige Hintermänner gefasst waren. Was immer David sagte, so gut er es auch meinte, er wurde nie das Gefühl los zu lügen. Deshalb schwieg er lieber, was oft zu einer beklemmenden Stille führte.
Wie würden die Owens reagieren? Würde die Trauer oder die Wut überwiegen? Würden sie Fragen stellen, auf die er keine Antworten hatte?
Er war müde und erschöpft und sehnte sich nach Mei. Sie könnte ihn jetzt mit ein paar Sätzen beruhigen. Oder er würde seinen Kopf auf ihre warme, weiche Brust legen, und seine Gedanken würden sehr schnell aufhören, um Tote, Täter und ihre Motive zu kreisen.
David schloss die Augen, konzentrierte sich auf seinen Atem und versuchte an nichts zu denken. Er stellte sich einen Sonnenaufgang in den Bergen Sichuans vor. Er sah saftig-grüne Reisfelder, in denen das Wasser stand, er sah Bambushaine, hinter denen ein gelb-weißer Ball auftauchte, dessen Helligkeit bald alles überstrahlte. Die Erinnerungen an Sonnenaufgänge in Sichuan. Die Owens. Michaels Mörder. Er atmete ein und zählte dabei bis acht, atmete aus, zählte bis zehn. Nach vier, fünf Atemzügen spürte er, wie allmählich Ruhe in ihn einkehrte, wie sich sein Gesicht entspannte. Als könne er für ein paar Sekunden aus dem Bild des wartenden, unruhigen Mordkommissars heraustreten.
Er hatte vor einigen Jahren mit der Meditation begonnen und damals geglaubt, dafür äußere Ruhe zu brauchen, bis er lernte, dass die Ruhe schon in ihm war und das Meditieren nur der Weg dorthin und dass es dabei gar keine Rolle spielte, wo er sich gerade befand, ob im Büro, beim Einkaufen oder am Grenzübergang Lo Wu. Sich selber besänftigen zu können, seinen Ängsten und Dämonen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, hatte er als überwältigende Befreiung empfunden. Seitdem meditierte er jeden Tag mehrmals, oft nur für einige Minuten. Es half fast immer.
David blickte sich in der Halle um und erkannte die Owens unter den einreisenden westlichen Geschäftsleuten sofort. Paul hatte das Paar gut beschrieben. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug, er eine Jeans mit weißem, kurzärmeligen Hemd, beide versteckten ihre Augen hinter dunklen Sonnenbrillen, ihre war so groß, dass sie das halbe Gesicht bedeckte. Begleitet wurde das Ehepaar von einem jungen Amerikaner aus dem Konsulat, der erstaunlich gut Mandarin sprach und trotzdem bei jedem Satz zu Beginn leicht stotterte. Er versuchte seine Aufregung zu verbergen, was sie nur noch schlimmer machte. Unter seinen Achseln hatten sich dunkle Schweißflecken gebildet, vor der Brust hielt er mit beiden Händen eine braune Aktentasche, wie ein Schwimmer, der sich im Wasser an eine Planke klammert. Die Männer überragten David um weit mehr als einen Kopf, und er hatte den Eindruck, dass sie, selbst wenn sie mit ihm sprachen, an ihm vorbei oder über ihn hinwegschauten. Fühlte er sich deshalb vom ersten Moment an unwohl? Waren es die getönten Brillen, die sie nicht absetzten, sodass er ihre Augen nicht sehen konnte und das Gefühl bekam, gegen eine Wand zu blicken. Oder war es die fremde Sprache? Sein Versuch, ein paar englische Sätze zu sagen, war eine Geste der Höflichkeit und des Respekts, auf die sie mit keinem Satz, keiner Regung reagierten.
David wechselte hastig ins Mandarin, stellte sich vor und bedankte sich für ihr Kommen. Der Konsularbeamte übersetzte, aber die Owens nickten nicht einmal. Sie gingen durch den Bahnhof auf den Vorplatz, wo eine schwarze Audi-Limousine auf sie wartete. Elizabeth Owen bewegte sich schleppend, vermutlich hatte sie starke Beruhigungsmittel genommen. Ihr Mann blieb plötzlich stehen und streckte eine Hand aus, als suche er Halt an einer Wand oder einem Baum. Er wankte und drohte zu stürzen. Elizabeth sah es nicht oder wollte nichts sehen und schritt langsam an ihm vorbei. Nach ein paar Sekunden hatte er sich wieder gefangen und folgte ihr.
Auf dem Weg zum Präsidium blieben sie zwei
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