Das Flüstern der Schatten
Nummer, er weiß, wie er uns erreichen kann. Aber viel wichtiger ist ja, wo er jetzt steckt.«
»Frau Owen, warten Sie auf mich. Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen.«
Das Appartement war nicht verwüstet worden. Es lag kein zerschlagenes Geschirr herum, weder die Sofakissen noch die Matratze waren aufgeschlitzt worden, aber jemand war hier gewesen, hatte jedes Zimmer bis in den letzten Winkel durchsucht und sich keine Mühe gegeben, das zu verbergen.
Im Schlafzimmer türmten sich Unterwäsche, Strümpfe, Sportsachen und Hemden auf dem Bett, die Schubladen der Kommode waren leer, der Schrank ausgeräumt. Im Büro bedeckten unzählige Ordner den Fußboden, viele waren aufgeschlagen, aus manchen waren Akten herausgerissen. Der Inhalt der Schreibtischschubladen lag verstreut herum: Stifte, Heftklammern, Flugpläne, Dollar- und Yuanscheine, Münzen, Stempel, Photos.
Richard Owen saß auf dem Schreibtischstuhl seines Sohnes und blickte stumm aus dem Fenster, als wäre er mit seinen Gedanken woanders.
»Wissen Sie, ob etwas fehlt?«, wollte Paul wissen.
»Was soll fehlen?«, fragte Elizabeth Owen verwundert zurück. »Mein Sohn kann sich ja nicht selber beklauen, außerdem...«
»Sei ruhig, Betty«, unterbrach ihr Mann sie in scharfem Ton, ohne sich umzudrehen.
»Richard glaubt, ich spinne.«
»Hör auf«, befahl er.
»Aber ich bin mir sicher, dass es Michael war«, fuhr sie fort, ohne sich von ihrem Mann beeindrucken zu lassen. »Niemand außer ihm und uns hat einen Schlüssel, und die Wohnungstür ist nicht aufgebrochen worden.«
»Seine Putzfrau hat einen Schlüssel. Wie oft soll ich es dir sagen, verdammt noch mal«, herrschte Richard Owen seine Frau an.
»Er hat etwas gesucht. Bestimmt war er in großer Eile und hat deshalb auch keine Zeit gehabt, uns anzurufen«, sagte sie, als hätte sie ihn nicht gehört. »Er wird sich in den nächsten Stunden bei uns melden. Davon bin ich fest überzeugt.«
Später würde Paul noch häufiger darüber nachdenken, ob es diese Sätze waren, die ihn dazu gebracht hatten, Elizabeth endlich die Wahrheit zu sagen. Ihr Sohn würde sich in den nächsten Stunden bei ihr melden. Davon war sie fest überzeugt. Das Wissen um die Absurdität dieser Überzeugung war für Paul unerträglich. Es machte ihn zu einem Mitwisser. Als wäre er ein Komplize des Todes. Wo es keine Hoffnung mehr gibt, weil Fakten geschaffen sind, ist jede Zuversicht eine entwürdigende Illusion. Er hatte den Ärzten immer wieder gesagt, dass er nicht belogen werden wollte, und war froh gewesen, dass sie es, soweit er es beurteilen konnte, auch nicht versuchten.
»Ich muss Ihnen etwas sagen«, begann Paul. Er spürte, wie sein Herz so heftig raste, als wolle es explodieren. Seine Knie wurden weich und die Stimme brüchig. Er schnappte nach Luft, als würde ihn eine übermächtige Hand unter Wasser drücken. Er war dabei, den Faden des Glücks dieser Menschen zu zerreißen, oder auch nur dabei, ihnen zu offenbaren, dass er gerissen war, was für sie keinen Unterschied machte. Nichts würde nach den nächsten Sätzen mehr sein wie es vorher gewesen war.
»In Shenzhen hat die Polizei gestern einen Toten gefunden«, sagte Paul.
Elizabeth Owen riss den Mund auf, ohne einen Ton hervorzustoßen.
Richard Owen stand ruckartig auf.
»Noch weiß man nicht, wer es ist. Er hatte keine Papiere bei sich. Aber er stammt aus dem Westen, und er ist im Alter Ihres Sohnes.«
»Das heißt doch nichts«, brüllte ihn Richard Owen an und hob seine Hände, als wolle er sich schützen oder Paul im nächsten Moment wegstoßen.
»Der Tote hat drei Narben am linken Knie.«
Paul hatte gehofft, nie wieder in solche Augen sehen zu müssen. Die Farbe des Sterbens. Der Schatten des Todes.
Vom Harbour View Court nach Wan Chai würde er zu Fuß eine gute Dreiviertelstunde brauchen. Paul dachte daran, ein Taxi zu nehmen, aber im geschlossenen Wagen im Stau zu stecken, würde er nicht aushalten. Nicht vor und nicht zurück zu können. Eingesperrt zu sein. Platzangst würde ihn überwältigen. Er musste raus, unter freiem Himmel sein. Er ging die Robinson Road hinunter, wurde mit jedem Schritt ein wenig schneller, die Bewegung tat ihm gut, er atmete tief ein und mit so lautem Stöhnen aus, dass sich die wenigen Passanten nach ihm umdrehten. Er durchquerte den Botanischen Garten, rannte die Kennedy Road entlang und kam bis zur Voliere im Hongkong Park. Dort verließen ihn seine Kräfte. Schweißgebadet sank er auf eine
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