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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Bank, japste nach Luft wie ein Sprinter im Ziel. Er spürte einen stechenden Schmerz im Kopf und hörte sein Blut durch die Ohren rauschen. Wo wollte er eigentlich hin? Zu Christine. Aber das Menschengewimmel, den Krach in Wan Chai zur Mittagszeit würde er in seinem Zustand gar nicht ertragen. Nicht einen Straßenblock weiter könnte er sich jetzt durch das Gewühl schieben. Der menschenleere Park mit seinen kleinen Rasenflächen, Teichen und Tümpeln inmitten der Wolkenkratzer war wie eine Schutzburg, in der er sich beruhigen konnte. Vielleicht würde Christine ja für eine halbe Stunde zu ihm in den Park kommen.
     
    Sie brachte zwei Käsesandwichs, eine Packung gefüllten Reiskuchen und zwei Halbliterbecher Eistee mit.
    »Ich kenne sonst niemanden, der so verrückt wäre, sich im September zur Mittagszeit in den Park zu setzen und zu picknicken«, sagte sie, breitete auf der Bank eine Serviette aus und legte die Brote darauf.
    »Es ist auch nicht meine erste Wahl«, erwiderte er müde, »aber es geht nicht anders.«
    »Was machen die Owens?«
    »Sie wollten noch in der Wohnung ihres Sohnes bleiben. Heute Nachmittag fahren sie rüber, um ihn zu identifizieren. Ich habe David Zhang angerufen, er wird sie an der Grenze abholen.«
    »Gibt es keinen Zweifel?«
    »Ich fürchte, nein.«
    »Wirst du sie begleiten?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Haben sie dich nicht darum gebeten?«
    »Ja, aber ich habe abgelehnt.«
    »Fahren sie allein?«
    »Nein. Ich habe ihnen geraten, sich an das Konsulat zu wenden. Einer der Beamten wird sie mit Sicherheit begleiten. Ich nicht. Versprochen ist versprochen.«
    »Das hast du gestern auch gesagt. Ein paar Stunden später warst du schon wieder in Shenzhen.«
    »Das stimmt. Aber jetzt ist es etwas anderes. Ich kann nicht mehr. Die ganze Geschichte geht mir zu nah.« Als er merkte, dass seine Worte sie nicht beruhigten, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: »Außerdem möchte ich nicht, dass du meinetwegen Angst hast.«
    »Es tut mir leid. Ich kann nicht anders.«
    Er strich ihr über die Haare.
    »Du hältst meine Furcht für übertrieben, habe ich Recht?«, fragte Christine.
    Paul überlegte. »Ich kann verstehen, dass du den Behörden in China misstraust, nach allem, was euch passiert ist. Aber das ist lange her. Ich glaube nicht, dass du noch Angst vor ihnen haben musst. Es ist nicht mehr das gleiche Land.«
    »Nein? Es ist nicht mehr die Volksrepublik China? Habe ich etwas verpasst?« Sie hatte ruhig, nur ein wenig erstaunt, fast beiläufig fragen wollen. Stattdessen klang sie eingeschnappt und aggressiv.
    »Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn sie meinen Vater auf dem Gewissen hätten«, sagte er, um sie zu beschwichtigen.
    »Und deinen Bruder.«
    »Meinen Bruder?«, fragte Paul erstaunt.
    »Deinen Bruder«, wiederholte sie.
    »Davon hast du mir noch gar nichts erzählt.«
    »Er war zehn Jahre älter als ich und wurde während der Kulturrevolution als Schüler zum Arbeiten aufs Land geschickt.«
    »Ist er verhungert?«
    »Wir wissen es nicht. Wir sind ja ein Jahr später nach Hongkong geflohen und haben nie wieder etwas von ihm gehört.«
    »Dann lebt er wahrscheinlich noch.«
    »Möglich.«
    »Seit der Öffnung habt ihr nicht versucht, ihn zu finden?«, fragte Paul.
    »Wie denn? Meine Onkel und Tanten sind alle nach Hongkong und Sydney geflohen. In Kanton lebt keiner mehr.«
    »Du kannst in euer Dorf fahren und ihn suchen. Vielleicht ist er dorthin zurückgekehrt und wenn nicht, weiß vielleicht jemand etwas über...«
    »Paul«, unterbrach sie ihn barsch. »Du begreifst es nicht. Ich fahre nicht nach China. Niemals. Wir waren Konterrevolutionäre.«
    »Vor vierzig Jahren!« Er bereute die Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte.

X
    David Zhang stand an der Lo-Wu-Grenzstation ein paar Meter hinter dem Schalter für Diplomaten und VIPs und wartete auf die Owens. Es war heiß und stickig in der Halle, die Klimaanlage funktionierte entweder gar nicht oder nur sehr eingeschränkt. David wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er war so aufgeregt, dass ihm schon zum zweiten Mal der Schlüsselbund entglitt, an dem er nervös herumfingerte. Was fast alle seiner Kollegen als lästige Pflicht bezeichneten, die Identifizierung eines Toten durch einen Angehörigen, gehörte für ihn zu den unangenehmsten Aufgaben eines Mordkommissars, und am schlimmsten war es, wenn Eltern die Leichname ihrer Kinder sahen. In solchen Momenten hatte David das

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