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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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David seiner Frage ausgewichen war und sie mit einer Gegenfrage beantwortet hatte. Die ganze Zeit über hatte sein Freund ungewöhnlich angespannt gewirkt, und Paul konnte sich das nicht erklären. Außerdem gingen ihm die Owens nicht aus dem Kopf, obgleich er versuchte, an etwas anderes zu denken. Er hatte das Bild vom amerikanischen Präsidenten und Richard Owen genau vor Augen. Zwei Männer schütteln einander die Hände. Sie lachen. Schauen direkt in die Kamera. Der eine mit routinierter Freundlichkeit, der andere mit einem Stolz, der so grenzenlos sonst nur von Kinderfotos strahlt. Bestimmt war Mr Owen Republikaner und hatte sich das Foto mehrere Zehntausend Spendendollar kosten lassen. Was hatte die Familie nach China getrieben, abgesehen von Lohnkosten, Gewinnmargen und 1,3 Milliarden potenzieller Kunden? Hatten sie gewusst, worauf sie sich einließen, oder waren sie in Erwartung von Bäumen und Blumen aus Glas, Brücken aus Porzellan und Glöckchen, die im Wind sangen, gekommen?

IX
    Die Uhr auf dem Bahnsteig zeigte 21 Uhr 15, als Paul die U-Bahnstation Central erreichte. Er war in Kowloon Tong und Mong Kok umgestiegen und konnte nun die 21 Uhr 30 Fähre nach Lamma nehmen, ohne sich beeilen zu müssen. Obwohl er sich seit über 24 Stunden nach nichts mehr sehnte als nach seinem Haus und der Ruhe der Insel, zögerte er jetzt. Zu viele Eindrücke, Gedanken, Ideen spukten durch seinen Kopf. Wohin mit ihnen? Er wünschte, er könnte sie in Schachteln packen, ins Regal stellen und sie einzeln, nach und nach hervorholen, sie zu Ende denken, sich mit ihnen beschäftigen, bis sie sich auflösten. Oder sie mit jemandem teilen. Darüber reden, bis sie ihn nicht mehr umtrieben, bis sie verebbten wie eine Welle, die am Strand an Kraft verliert und im Sand für immer versickert. Er hatte das Gefühl, sich völlig überfordert zu haben. Als wenn sein Verstand und seine Sinne in den vergangenen drei Jahren auf Lamma einen anderen Rhythmus angenommen hätten, einen Rhythmus, der dem Tempo der Städte, ihrer Geräusche, ihrer Menschen, ihrer Hektik nicht mehr gewachsen war. Sollte er eine spätere Fähre nehmen und noch etwas in der Bar des Mandarin trinken?
    Er rief Christine an. Ihre Stimme würde ihm guttun.
    Sie saß noch im Büro über den Abrechnungen des vergangenen Monats. Nein, gegen einen Drink im Mandarin Oriental hatte sie nichts einzuwenden.
     
    Paul spürte die Wirkung des Alkohols sofort. Er merkte sie zuerst in den Beinen und fühlte, wie sie langsam in Wellen durch seinen Körper kroch, wie sie seinen Kopf erreichte und ihn eine Leichtigkeit ergriff, von der er vergessen hatte, dass es sie gab.
    Christine blickte ihn amüsiert an. »Ist alles in Ordnung?«
    »Ja«, antwortete er und musste selber lachen.
    »Wann hast du das letzte Mal etwas getrunken?«
    »Ich erinnere mich nicht. Muss Jahre her sein. Aber es tut gut.«
    »Wie komme ich zu dieser Einladung? Was hast du seit unserem Mittagessen gemacht?«
    Er hatte kurz überlegt, ob es klüger sei, etwas von einem langen Gespräch mit den Owens zu erzählen, von Besorgungen und Erledigungen oder einem Besuch im Schwimmbad und einer Verabredung im Foreign Correspondent’s Club, aber dann schien es ihm lächerlich, den Besuch in Michael Owens Wohnung und die paar Stunden auf der anderen Seite der Grenze zu verschweigen. Und so erzählte er von seinen Recherchen in dem Mordfall. Sie schaute ihn an, als hätte er ihr gesagt, er wolle sie nie wieder sehen. Einen Moment lang fürchtete er, sie werde gleich anfangen zu weinen oder ihn anzuschreien. Oder sie würde wortlos aufstehen und verschwinden. Ihre Lippen zitterten ein wenig. Dann traten ihr Tränen in die Augen.
    »Du nimmst mich nicht ernst.«
    »Wie kommst du denn darauf?«, sagte Paul.
    »Du hattest mir versprochen, dich nicht weiter einzumischen. Du wolltest dich aus der Sache raushalten.«
    »Ich habe nur meinem Freund einen Gefallen getan.«
    »Du hast Beweismittel über die Grenze geschmuggelt.«
    Paul erwiderte nichts. Er wollte ihre Hand nehmen, aber sie schüttelte abweisend den Kopf.
    »Du hältst mich für eine hysterische Ziege.«
    »Überhaupt nicht. Warum sagst du so was?«
    »Du glaubst, ich sehe Gespenster, stimmt es?«
    »Nein.«
    »Du glaubst, ich hasse die Rotchinesen, weil sie meinen Vater umgebracht haben.«
    »Nein, Christine, nein.«
    »Du glaubst, ich hasse sie, weil mein Mann mich mit einer von ihnen betrogen hat. Gib es zu.« Ihre Stimme war jetzt so laut, dass sich die Gäste an

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