Das Flüstern der Schatten
Mal im Stau stecken, und mit jeder Minute, die sie stillstanden, hatte David das Gefühl, das Innere des Wagens schrumpfe, bis er die Enge kaum noch ertrug. Er sah im Rückspiegel, wie Richard Owen mehrmals nach der Hand seiner Frau griff, die jedes Mal zurückzuckte.
Im Präsidium wiederholte sich die Szene aus dem Bahnhof. Lo, der Leiter der Mordkommission, und Yip, der mächtige Parteisekretär, standen umgeben von ihren Assistenten vor dem Seiteneingang. Mit ein paar Brocken Englisch begrüßten sie die Owens, die jedoch nichts erwiderten, sondern Schutz hinter den dunklen Gläsern ihrer Brillen suchten. Die Fahrt mit dem Fahrstuhl vom Erdgeschoss in den Keller dauerte nur wenige Sekunden, die David wie eine Ewigkeit vorkamen. Elizabeth Owen zitterte am ganzen Körper, und die Männer schauten wortlos aneinander vorbei, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Im Keller führte Lo sie durch einen langen Gang in die kleine, schlecht beleuchtete Halle des Leichenschauhauses. Elizabeth blieb in der Tür stehen. Als könne sie sich dem aufgebahrten, aber mit einem grauen Laken bedeckten Toten keinen weiteren Schritt nähern. Der Konsularbeamte zögerte kurz, überlegte, ob er bei ihr bleiben sollte, bevor er ihrem Mann in die Mitte des Raumes folgte.
Wu, der alte Pathologe, erwartete sie schweigend. Sie standen im Halbkreis vor dem Leichnam, in einer fast unerträglichen Stille. Selbst Wu, der schon so viele Tote obduziert hatte, schien nervös zu sein. Er fingerte umständlich am Tuch, bevor er es am Kopfende langsam hob. David schaute nicht hin. Er stand neben Richard Owen und beobachtete die beiden Amerikaner. Aus dem Gesicht des jungen Konsularbeamten wich das Blut, er wurde bleich wie Kreide und begann zu würgen. Richard Owen hörte ihn nicht, er blickte ohne eine Regung im Gesicht auf seinen Sohn. Er nickte und murmelte dann ein paar Worte, die David zusammenzucken ließen, aber von denen er nicht sicher war, ob er ihre Bedeutung richtig verstand. Sobald die Owens wieder gefahren waren, wollte er Paul anrufen und ihn fragen, was Richard Owen gemeint haben könnte.
Als Berufsanfänger hatte David in den ersten Jahren versucht, die Reaktionen der Angehörigen in solchen Momenten zu deuten, hatte geglaubt, sie könnten ihm etwas verraten über ihre Beziehung zum Toten, über ihren Schmerz, über die Bedeutung des Verlusts. Dieser David wäre jetzt irritiert gewesen, er hätte begonnen, einen Verdacht zu hegen. Er hätte regungslos mit teilnahmslos gleichgesetzt. Er hätte jede Bewegung, jedes Flackern der Augen, jedes Zucken um den Mund genau registriert und bewertet, hätte sich gefragt, warum dieser Mann nicht in Tränen ausbrach, warum er seinen Sohn nicht berühren wollte, warum er die Augen nicht schloss oder zu zittern begann.
Irgendwann hatte David aufgehört, sich solche Fragen zu stellen. Ob Eltern, Geschwister oder Freunde bei der Nachricht des Todes oder der Identifizierung der Leichen weinten, vor Trauer schrien, zusammenbrachen oder so kühl blieben, als hätten sie den Toten kaum gekannt, sagte nichts oder nur sehr wenig darüber aus, was wirklich in ihnen vorging, wie sehr der Tod sie traf.
Trauer hat so viele Gesichter, wie es Menschen gibt, dachte David. Das hatte sie mit der Liebe gemein.
Deshalb ärgerte er sich umso mehr über die Gedanken, die ihm jetzt durch den Kopf schossen. Hier stimmte etwas nicht. Das Ehepaar irritierte ihn zunehmend. Warum eilte Richard Owen jetzt nicht zurück zu seiner Frau? Warum sagte er nichts mehr? In seinem Gesicht glaubte David mehr zu sehen als nur Schmerz und Verzweiflung. Er hatte als Kommissar gelernt, seiner Intuition, seinen Instinkten zu vertrauen, aber in diesem Fall war er unsicher. Er stand einem Amerikaner gegenüber, dessen Kultur er nicht kannte.
Und noch etwas verwirrte David: Warum war Parteisekretär Yip mit in den Keller gekommen? Dass er die Ausländer am Eingang begrüßt hatte, war eine Frage des Protokolls gewesen, aber hier unten hatte David ihn in all den Jahren noch nicht gesehen. Er war ein politischer Führungskommissar, Leiter all der Parteimitglieder im Präsidium, er organisierte ihre Treffen, auf denen sie die Beschlüsse der Parteitage und die Lehren von Deng Xiaoping und Staats- und Parteichef Hu Jintao studierten, Selbstkritik übten, Besserung gelobten. Mit der polizeilichen Ermittlungsarbeit hatte er nichts zu tun und deshalb hier unten auch nichts zu suchen. Was bedeutete seine Anwesenheit?
Die Stimme seines
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