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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Vorgesetzten. David hörte ihn etwas von einer Kopfverletzung sagen und dass man noch nicht endgültig wisse, ob sie von einem Sturz oder von Gewalteinwirkung stamme, und dass man hoffe, in den nächsten Stunden Gewissheit zu erlangen. So lange würde man die Familie auch nicht mit Fragen belästigen.
    Es war also noch nicht entschieden, ob man versuchen wollte, den Mord zu vertuschen. Die meisten seiner Kollegen hofften insgeheim darauf, das hatte er aus ihren Äußerungen deutlich heraus gehört. Es würde ihnen eine Menge Arbeit ersparen. David hingegen fürchtete sich vor dieser Lösung. Jedes Mal, wenn auf eine Ermittlung von außen Einfluss genommen wurde, sei es aus politischen Gründen oder weil jemand seine Beziehungen genutzt hatte, und sie Verdächtige frei lassen, Verhöre abbrechen, Unschuldige verhaften mussten, reagierte er darauf mit körperlichen Symptomen, zumeist mit Übelkeit und Erbrechen. Eine Zeit lang hatten sie ihn im Präsidium den »kotzenden Kommissar« genannt.
    Auf der Rückfahrt zum Bahnhof sprachen sie kein Wort. Die Owens schauten stumm links und rechts aus den Wagenfenstern, ohne Halt oder Trost beieinander zu suchen. Zwischen ihnen saß der unglückliche Konsularbeamte, steif und unbeweglich wie eine Puppe, den Blick stur geradeaus gerichtet.
    David brachte sie bis zur Grenze, die Menschenschlangen vor den Schaltern erstreckten sich durch die ganze Halle und wurden nur langsam kürzer, da die jungen Grenzbeamten ihre Aufgaben mit Sorgfalt und großem Ernst erledigten. Er nahm die Pässe der drei Amerikaner und besorgte ihnen im Büro des Stationsleiters die Ausreisestempel. Während der Konsularbeamte sich noch bedanken wollte, drehten sich die Owens wortlos um und machten sich auf den Weg zum Zug.
    Oh my God, Michael. I am sorry. I am so sorry. David war ziemlich sicher, dass er diese Sätze gehört hatte. Was meinte Richard Owen damit? Wofür entschuldigte er sich?
    Vor dem Bahnhof versuchte er vergeblich, Paul zu erreichen. Niemand nahm ab.
    Das war kein gutes Zeichen.

XI
    Richard Owen musste an seinen Vater, Richard Owen den Zweiten, denken. Er sah ihn, ein Jahr vor seinem Tod, im Garten ihres Hauses in Wisconsin mit Michael spielen. Es war ein drückend heißer Sommertag, Richard erinnerte sich sehr genau. Der Alte trug kurze Hosen, die Blässe seiner langen, dürren Beine verriet, wie ungewöhnlich das war, er warf seinem Enkel Footbälle zu, nach jedem Wurf hustete er und japste nach Luft, die vom Krebs angegriffene Lunge hatte ihn kurzatmig gemacht, aber das wussten sie an diesem Tag noch nicht. Michael war nicht zu bremsen. »Nur noch fünf Minuten«, bettelte er, sobald sein Großvater Anstalten machte, das Spiel zu beenden. Er hechtete und flog über den Rasen, rannte unermüdlich auch den weitesten Pässen hinterher, angelte sich selbst die schwierigsten Bälle aus der Luft, immer beflügelt von den krächzenden, mühsam hervorgestoßenen Anfeuerungen seines Großvaters. Good boy. Great catch, great catch. Die flach gewordene Stimme schaffte es nicht mehr über den weiten Grund bis zum Haus.
    Richard Owen saß auf der Veranda, beobachtete seinen Vater und seinen Sohn und überlegte kurz, ob er zu ihnen gehen sollte. Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Er wäre nicht willkommen. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn mitspielen lassen würden. Gestern hatte die Kraft des Alten nur für ein paar Würfe gereicht, und als Richard anbot, ihn zu ersetzen, hatte sein Sohn behauptet, er sei jetzt auch müde, und ging hinauf in sein Zimmer.
    Michael hing sehr an seinem Opa. Die beiden mochten einander auf eine Art, die Richard nicht verstand, die ihm fremd war und um die er sie insgeheim beneidete. Sein Vater hatte ihm früher nie Bälle zugeworfen. Er hatte nicht einmal die Zeit gefunden, die Spiele in der High-School-Mannschaft zu besuchen, in der sein Sohn immerhin Quarterback und unumstrittener Star war. Woher kamen das Interesse und die Ausgelassenheit, mit der er jetzt mit seinem Enkel tobte und das schon, seit der Kleine laufen konnte? Wenn er, Richard, mit Michael spielte, führte das immer nach wenigen Minuten zu Streit. Der Junge war so empfindlich. Furchtbar. Auf jede Bemerkung seines Vaters reagierte er mit Widerspruch, jeden Ratschlag empfand er als Kritik. Dabei wollte er nur Tipps geben, ihm helfen, sein Spiel zu verbessern. Aber Michael weigerte sich, von den Erfahrungen seines Vaters zu profitieren. Deshalb hatten sie irgendwann aufgehört, zusammen

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