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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Football zu spielen, deshalb saß Richard Owen an diesem Tag im weißen Schaukelstuhl auf der Veranda und wusste nicht, zu wem er eine größere Distanz verspürte, zu seinem Vater oder zu seinem Sohn.
    Warum tauchten ausgerechnet jetzt Bilder von diesem über zwanzig Jahre zurückliegenden Nachmittag vor seinen Augen auf? Einem Nachmittag, an dem, soweit sich Richard erinnern konnte, nichts Bemerkenswertes geschehen war. Weshalb konnte er nicht an ein schöneres Erlebnis mit Michael denken? Eine ihrer Angeltouren, auf denen sie sich nicht gestritten hatten? Ihren Ausflug zu den Indy 500, dem großen Autorennen in Indianapolis? Er wusste, dass es diese gemeinsamen Erlebnisse gegeben hatte, konnte sich aber in diesem Augenblick beim besten Willen nicht an Einzelheiten erinnern. Er hasste die Unberechenbarkeit seines Gedächtnisses. Als wenn es jetzt nichts Wichtigeres zu bedenken oder zu erinnern gäbe. Er war auf dem Weg, einen Toten zu identifizieren, und er hatte keinen Zweifel, dass es sein Sohn war, der im Leichenschauhaus lag, egal an welchen Strohhalm der Hoffnung Elizabeth sich noch klammern mochte.
    Der Zug nach Shenzhen war so voll, dass der junge Mann vom Konsulat stehen musste. Richard saß zwischen seiner Frau und einem alten Chinesen, der nach Knoblauch stank und ständig einschlief. Zweimal bereits war sein Kopf auf die Schulter Richard Owens gesunken und nur ein energisches Schütteln hatte ihn wieder geweckt. Er wäre lieber mit dem Auto gefahren, das der Konsul ihnen zur Verfügung stellen wollte, aber Elizabeth hatte auf den Zug bestanden. Vermutlich, weil Michael den auch immer genommen hatte.
    Sie hatten in den vergangenen Stunden kaum mehr ein vernünftiges Wort miteinander gewechselt. Sobald er etwas sagte, drehte sie sich weg, wenn er versuchte sie in den Arm zu nehmen, versteifte sich ihr ganzer Körper. Als wäre alles seine Schuld. Als hätte er den Jungen gegen seinen Willen verantwortungslos in irgendein Abenteuer geschickt. Darüber stritten sie seit zwei Tagen. Das Gegenteil war der Fall, daran erinnerte er seine Frau immer wieder, ohne sie überzeugen zu können. Hätten sie in dieser gottverdammten Familie auf ihn gehört, wäre ihr Sohn jetzt noch am Leben.
    Er, Richard Owen der Dritte, Mitinhaber und ehemaliger alleiniger Geschäftsführer von Aurora Metal hatte sich lange geweigert, in China zu investieren. Wie konnte Elizabeth all die Diskussionen zwischen Vater und Sohn vergessen, den Streit, der das Haus füllte, der nicht selten in Gebrüll und Türenschlagen endete und bei dem Elizabeth, wenn sie sich einmischte, Michaels Partei ergriff. Er, Richard, hatte seine Position auch ihr gegenüber mehr als einmal klargemacht: Ihm genügte der amerikanische und kanadische Markt, die hatten schon zwei Generationen vor ihnen gut ernährt, warum sollte sich das ändern? Sie belieferten seit bald einem halben Jahrhundert General Motors und Ford zuverlässig mit spezial gefertigten Schrauben und Motorteilen. Die Einkäufer der Konzerne kannte er seit vielen Jahren, mit manchen war er befreundet, sie hatten sich noch nie beschwert, weder über die Qualität noch über den Preis. Warum sollte er die Ersatzteile plötzlich am anderen Ende der Welt fertigen lassen? China war etwas für General Electric, für McDonalds, Boeing oder Philip Morris, die Global Players, aber nichts für Aurora Metal.
    Wer waren sie denn? Mittelständler, ein Familienbetrieb, der schon in der dritten Generation von einem Owen geführt wurde, der nie an die Börse wollte, der stolz darauf war, noch immer in derselben kleinen Stadt zu fertigen, ja praktisch auf demselben Grundstück, auf dem sein Großvater, Richard Owen der Erste, die Firma im Februar 1910 gegründet hatte. Sie waren mit der Autoindustrie gewachsen, ganz organisch, ohne Zukäufe oder Übernahmen. Aus dem Zwei-Mann-Betrieb war ein angesehenes Unternehmen mit über 880 Angestellten geworden, größter Arbeitgeber des Ortes, Sponsor der College-Basketballmannschaft und eines High-School-Footballteams, großzügiger Spender des kommunalen Krankenhauses, in dem sogar zwei Operationssäle nach ihnen benannt worden waren. Sicher, es hatte auch ein paar magere Jahre gegeben, die Ölkrise in den siebziger Jahren, die folgende Rezession unter dem unfähigen Demokraten Jimmy Carter, aber im Großen und Ganzen handelte es sich um zyklische Auf- und Abschwünge, die das Unternehmen gut verkraftet hatte. Im Sommer 1995 hatten sie die neue Fabrik eingeweiht. Eine

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