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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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dort vor allem die teuren Modellreihen, die auf Qualität großen Wert legten, und die hatte ihren Preis, das wussten deren Manager, und das wussten auch die Käufer eines Cadillac oder Lincoln.
    Am Ende ging alles sehr schnell. Bei den Automobilkonzernen, so schien es Richard Owen, hatten innerhalb kurzer Zeit die Einkäufer die Macht von den Ingenieuren übernommen. Er saß jungen Männern gegenüber, die nicht mehr von neuen technischen Raffinessen aus der Entwicklungsabteilung schwärmten, sondern sich ausschließlich für Zahlen interessierten. Zulieferbetriebe waren für sie nichts als Kostenfaktoren, die es mit allen Mitteln zu reduzieren galt. Sie forderten von ihm den »China-Preis«, das war die Summe, für die sie die Teile angeblich in China produzieren könnten. Der China-Preis, erklärten sie ihm, machte es möglich, dass er heute im Supermarkt für viele Produkte weniger zahlen musste als vor einigen Jahren. Entweder konnte Aurora Metal ähnliche Angebote machen, oder die Geschäftsbeziehungen müssten über kurz oder lang beendet werden, so bedauerlich das auch war. Richard Owen schaute sich die Zahlen an und fühlte sich verhöhnt. Am liebsten hätte er den Jungmanagern mit ihren Papieren die Mäuler gestopft. Nicht einmal vor zwanzig Jahren hätte er zu solchen Bedingungen liefern können. Er stellte sich vor, wie sein Vater oder Großvater mit diesen Typen fertig geworden wären, wie sie diese samt ihres China-Preises vom Hof gejagt hätten. Er aber war nicht mehr stark genug, um sich zu wehren.
    Michael Owen flog nach Hongkong, Shenzhen und Shanghai, und als er nach fast drei Wochen zurückkehrte, erklärte er seinem Vater, dass es auf der Welt kein kapitalistischeres Land gebe als China, dass man sich wegen der Kommunisten dort keine Sorgen machen müsse, weil die den amerikanischen Traum träumten, und dass es ein lächerlicher, von Sentimentalitäten oder Unkenntnis geprägter Anachronismus war, in Amerika auch nur noch eine Schraube, einen Knopf fertigen zu wollen, wenn man die am anderen Ende der Welt für ein Zehntel, ach was, ein Zwanzigstel produzieren konnte. Michael hatte bereits mit mehreren möglichen chinesischen Joint-Venture-Partnern gesprochen, Aurora Metal war mit der Erfahrung und den Kontakten, die die Owens besaßen, ein begehrter Partner, sie hatten die Qual der Wahl. Es ging nicht mehr darum, Teile der Produktion zu verlagern, sondern die gesamte Fertigung. Die Fabrik in Amerika musste geschlossen werden, je schneller desto besser, egal wie modern und effizient die Maschinen waren. Der Stundenlohn ihrer neuen Arbeiter in Guangdong würde bei 25, maximal 35 Cent liegen. Es gab keine Gewerkschaften, keine Pensionsrückstellungen, nur eine Woche bezahlten Urlaub, und wer nicht anständig arbeitete, den konnten sie von einem Tag auf den anderen entlassen, vor den Werkstoren warteten genug junge Männer, die bereit waren, jede Arbeit zu übernehmen. Worüber diskutierten sie noch? Von den 880 Mitarbeitern in Amerika müssten sie maximal 20 im Büro und in der Buchhaltung behalten.
    Als Richard Owen immer noch zögerte, diesen Schritt zu vollziehen, drohte Michael damit, sich selbstständig zu machen. Über Nacht wurden die ersten Aufträge für das kommende Jahr storniert. Er wusste, dass dies kein zyklischer Abschwung war, sondern eine Warnung der Cola-light-Männer. Er hatte zu lange gewartet. China war keine Alternative mehr, China war der letzte Ausweg.
    Auf einer Betriebsversammlung verkündete Michael das Ende der Aurora-Metal-Produktionsstätte in Wisconsin. Er sprach ruhig und sachlich, wie ein Lehrer, der seinen Schülern geduldig eine mathematische Formel erklärt und, was Richard Owen am meisten erstaunte, die Arbeiter reagierten ebenso besonnen. Kein wütender Protest fegte durch die Halle, keine Beschimpfungen, kein Geschrei wurden laut. Als wäre ihnen allen immer schon klar gewesen, dass hier eines Tages die Tore dicht gemacht würden, um sie zehntausend Meilen entfernt wieder zu öffnen. Als wäre der »China-Preis« eine Art Naturgesetz, gegen das sich nur Idioten zur Wehr setzten.
    Richard hatte neben seinem Sohn gestanden und mit den Tränen gekämpft. Er hatte nicht geahnt, was für ein guter Redner Michael war. Die eindringliche Stimme, die aufrechte Körperhaltung, den Blick geradeaus über die Köpfe der Arbeiter hinweg auf die stillstehenden Maschinen gerichtet. Die Männer hatten ihn, Richard, angesehen. Viele von ihnen kannte er mit Namen, sie arbeiteten

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