Das Flüstern der Schatten
in der zweiten, mancher gar in der dritten Generation in dieser Fabrik. Er hatte nicht über sie hinwegsehen, ihren Blicken ausweichen, sondern ihnen in die Augen schauen wollen. Es war ihm nicht gelungen. Er hatte an die Decke und auf den Boden gestarrt, hatte Halt an den Helmen, den blauen Arbeitsanzügen, dem Feuerlöscher an der Wand gesucht. Die Arbeiter hatten ein paar Sätze erwartet, er hätte etwas sagen müssen, er wollte es auch. Aber was? Michael hatte ihnen den »China-Preis« erklärt. Sie hatten stumm dagestanden, zugehört, genickt. Mehr hatte es nicht zu sagen gegeben. Richard hatte sich für seine Hilflosigkeit geschämt.
Der Konsularbeamte holte Richard Owen zurück aus seinen Erinnerungen. Was sagte er? Wer war dieser Mensch überhaupt, der ihnen in dieser stickigen Ankunftshalle gegenüberstand? Doch nicht etwa der gute Freund von Herrn Leibovitz? Hatte der nicht etwas von einem Mordkommissar gesagt? Dabei konnte es sich unmöglich um diesen schwitzenden Zwerg mit den gelben Zähnen handeln. Vermutlich ein Assistent. Was sagte er? Er sprach so leise, dass Richard Owen kein Wort verstand. Sollte dieses Kauderwelsch Englisch sein? Warum starrte er so penetrant auf ihre Sonnenbrillen?
Sie gingen hinaus auf den Vorplatz des Bahnhofs, und plötzlich hatte er das Gefühl, der Boden unter seinen Füßen schwanke. Vielleicht waren es die Hitze und die Feuchtigkeit, die ihn im Freien fast wie eine Druckwelle trafen, vielleicht die Erinnerungen und Elizabeths Distanz, oder vielleicht verstand er in diesem Moment zum ersten Mal, was geschehen war und was ihm bevorstand. Egal was seine Frau glaubte, er liebte Michael nicht weniger als sie es tat, auch wenn er und sein Sohn sich viel und heftig gestritten hatten, besonders in den letzten Wochen. Was bedeutete das schon? Er hatte Elizabeth die Gründe erklären wollen, aber sie hörte ja nicht zu, sie wollte nichts wissen von den gefährlichen Spielen, die ihr Sohn in China trieb. Mehrmals hatte er es versucht, hatte gebeten, sie möge mit ihm reden, vielleicht würde er auf sie eher hören als auf seinen Vater, aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt. Er solle nicht ständig an seinem Sohn zweifeln und nörgeln, das habe er früher schon immer gemacht, kein Wunder, dass Michael sich dagegen wehrte, und er, Richard, solle einfach mehr Vertrauen zu ihm haben. Schließlich war Michael es, der darauf gedrängt hatte, in China zu investieren, der Victor Tang gefunden und die Verhandlungen mit ihm geführt und dadurch Aurora Metal gerettet hatte.
Richard Owen spürte, wie seine Augen feucht wurden, er schluckte mehrmals. Hatte Elizabeth womöglich Recht? Hatte er mit seiner Skepsis seinem Sohn Unrecht getan? Bloß jetzt keine Tränen, dachte er, sich nicht gehen lassen, weder vor seiner Frau, erst recht nicht vor den Fremden.
Im Wagen herrschte eine grauenvolle Stille. Der Chinese saß vorn und sagte kein Wort. Elizabeth ließ es noch nicht einmal zu, dass er ihre Hand hielt. Als sie im Stau standen, blickte er aus dem Fenster und sah nichts als Baustellen. Die Fahrbahn wurde aufgerissen, der Bürgersteig ebenfalls, und vor ihnen entstand eine neue Fußgängerbrücke über der sechsspurigen Straße. Hinter einem Bauzaun, der sich über einen ganzen Block erstreckte, ragten Kräne in den Himmel, Bambusgerüste rahmten ein halbes Dutzend graue, halb fertige Wolkenkratzer ein. »Ganz China ist eine Baustelle«, hatte Michael in einer E-Mail von seiner ersten Reise begeistert geschrieben. »Schade, dass wir nicht mit Zement und Stahl handeln.«
Vor dem Polizeipräsidium erwartete sie eine ganze Delegation von Männern, die für Richard Owen alle gleich aussahen. Dunkle Anzüge, weiße Hemden, schwarze Haare und verwunderte Blicke, als hätten sie noch nie einen Ausländer gesehen. Zwei Beamte reichten ihm die Hand, ihr weicher Händedruck erinnerte ihn an Pudding. Der Konsularbeamte übersetzte ihre Namen, die Richard Owen sofort wieder vergaß. Sie schauten ihn an, als erwarteten sie ein paar Sätze von ihm. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wenn doch jetzt nur Tang an seiner Seite wäre. Warum hatte Elizabeth darauf bestanden, dass er nicht dabei war? Sie mochte ihn doch, jedenfalls behauptete sie das immer. Heute Morgen hatte sie zum ersten Mal gesagt, Tang sei ihr unheimlich, ohne das näher zu begründen. Sie waren darüber in Streit geraten, denn wenn es etwas gab, abgesehen natürlich von steigenden Gewinnen, das Richard Owen überzeugt hatte, dass
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