Das Flüstern der Schatten
Reaktion hatte Tang nicht gerechnet, nicht nach dem Gespräch, das er in der vergangenen Woche mit dem alten Owen geführt hatte, nicht nach all den Streitereien, die er zwischen Vater und Sohn in den vergangenen drei Jahren hatte miterleben müssen und die in den letzten Wochen immer heftiger und erbitterter geworden waren. Er war sich nicht sicher, wie er Richards Tränen einschätzen sollte. Entweder stand er noch unter dem Schock des Anblicks seines toten Sohnes, oder es brachen alte Wunden auf. Letzteres wäre, Tang wusste es aus eigener Erfahrung, gefährlich.
Er schaute auf die Uhr. In knapp einer Stunde würde er in seinem Büro in der Fabrik den Polizeipräsidenten, den Parteisekretär des Polizeipräsidiums, den Leiter der Mordkommission und einen engen Mitarbeiter des Bürgermeisters treffen. Er wollte ihnen noch einmal mit Nachdruck klarmachen, dass es keine Option war, Elizabeth und Richard Owen etwas von einem Unfall zu erzählen. Elizabeth würde auf einer Obduktion in Hongkong oder Amerika bestehen. Es war Mord, und der durfte nicht lange unaufgeklärt bleiben. Elizabeth würde keine Ruhe geben, bevor der Mörder gefunden und verurteilt war. Sie brauchten einen Verdächtigen mit einem plausiblen Motiv, und zwar so schnell wie möglich. Das konnte eigentlich nicht so schwer sein nach allem, was in den vergangenen Wochen in der Fabrik vorgefallen ist. Je länger sich die Ermittlungen hinzogen, umso größer war die Gefahr, dass die Medien in Hongkong über den Fall berichteten und dadurch chinesische Zeitungen darauf aufmerksam wurden oder sich die amerikanische Botschaft in Peking einschaltete. Abgesandte der diplomatischen Vertretung, darunter womöglich noch ein Ermittler vom FBI, der unangenehme Fragen stellte, waren das Letzte, was sie jetzt brauchen konnten. Der Mordfall musste heute, morgen, spätestens übermorgen aufgeklärt sein, es gab in Shenzhen und in seiner Heimat Sichuan zu viele Neider, die nur darauf warteten, ihm etwas anzuhängen, ihn in Verruf zu bringen, die nichts mehr wünschten, als dass er einen Fehler machte, um sich dann auf ihn zu stürzen, sein kleines Reich auseinanderzunehmen und unter sich aufzuteilen.
Der Mercedes kam mit einem sanften Ruck zum Stehen. Auf der Shennan Road saßen sie hoffnungslos im Stau fest. Grimmig abgerissene Akkorde klangen aus dem Lautsprecher im Auto.
Tang betrachtete die Skyline der Stadt, und wie so häufig bei diesem Anblick, hatte er, ob er wollte oder nicht, New York vor Augen. Selbstverständlich konnten es diese Wolkenkratzer nicht mit denen in Manhattan aufnehmen, natürlich nicht, Shenzhen war nicht Shanghai oder Hongkong, aber was sie hier in den vergangenen fünfzehn Jahren aus dem Nichts, aus einem armseligen, trostlosen Fischerdorf geschaffen hatten, war mehr als erstaunlich, es erfüllte ihn mit Stolz. Eine gewisse Ästhetik konnte auch dieser Silhouette niemand absprechen. Besonders in der Dämmerung nicht, wenn die etwas eintönigen Fassaden verschwanden und nur noch das endlose Lichtermeer zu sehen war, das ihn an amerikanische Großstädte erinnerte, die ihn auf seinen Reisen früher bei jedem Anblick aufs Neue fasziniert hatten.
New York City. Manhattan. 53. Straße, Ecke Lexington Avenue. Es gab in Tangs Leben zwei Tage, die ihm auch heute noch, Jahrzehnte später, so gegenwärtig waren, dass er sich immer wieder über sein Gedächtnis wunderte, über dessen erstaunliche Speicherkapazität und Präzision. Es machte ihn zu einem Zeitreisenden. Wann immer er wollte, beförderte die Erinnerung ihn zurück an diesen warmen, wolkenlosen Tag im Frühsommer 1985, an dem er auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen zum ersten Mal amerikanischen Boden betrat. Er kam als Stipendiat der Harvard Universität, Business School, ausgewählt unter mehreren tausend Bewerbern aus ganz China, geschickt von der Provinzregierung Sichuans. Er hatte in Chengdu Englisch, Volks- und Betriebswirtschaft studiert und sollte auf dieses Studium aufbauen, einen MBA machen, dringend benötigte Erfahrungen sammeln, um nach seiner Rückkehr dabei zu helfen, die sozialistische Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft zu verwandeln. Oder zumindest in die chinesische Variante davon.
Victor Tang sah sich wieder vor dem Terminal 1 des Flughafens stehen. Er war allein und so unsicher, dass er Mühe hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Diese Unsicherheit war mehr als die kurze Irritation eines Fremden, der sich mit einem Ort erst vertraut machen muss. Sie ging
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