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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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die Entscheidung, die Produktion ganz nach China zu verlagern, richtig war, dann die Begegnung mit Victor Tang.
    Ihr Joint-Venture-Partner hatte ihn bereits bei ihrem ersten Treffen im Hongkonger Regent Hotel außerordentlich beeindruckt. Tang sprach ein nahezu akzentfreies, perfektes Englisch. Er hatte vier Jahre an der Harvard School of Business studiert, war in dieser Zeit viel durchs Land gereist und verblüffte Richard Owen immer wieder mit seinem umfangreichen historischen Wissen. Er war offensichtlich fasziniert von den Vereinigten Staaten, in der amerikanischen Geschichte kannte er sich besser aus als Richard Owen selbst, von Michael ganz zu schweigen. Aus dem geplanten zweistündigen geschäftlichen Mittagessen war damals fast ein ganzer Tag geworden mit chinesischem Abendessen und abschließendem Besuch einer Karaoke-Bar, in der sie Whiskey aus Tennessee tranken und zusammen Frank Sinatras »My way« sangen. Das würde ihm in Wisconsin niemand glauben. Ein Chinese, der ganze Absätze aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Gettysburg-Ansprache von Abraham Lincoln auswendig konnte, ein Chinese, der behauptete, es gäbe eine geistige Verwandtschaft zwischen Den Xiaoping und Ronald Reagan, und das auch noch mit Zitaten zu belegen wusste. »Gier ist gut«, hatte der Amerikaner proklamiert, »reich zu werden ist glorreich«, der Chinese, und beide, behauptete Tang, meinten dasselbe. Es schmeichelte den Owens, indem er immer wieder betonte, dass China von Amerika sehr viel lernen könnte und dass es dazu jetzt endlich bereit sei. »Der amerikanische Traum, Herr Owen, ist sehr lebendig. Er wird heute geträumt und gelebt von Millionen Chinesen, und es werden jeden Tag mehr, glauben Sie mir.«
    Genau das tat Richard Owen von diesem Tag an. Er glaubte Victor Tang. Er hatte ihm in die Augen geschaut und darin eine Willensstärke und eine Härte gesehen, die ihm bekannt vorkamen, er hatte mit ihm gegessen und getrunken und wusste, dass er mit diesem Mann Geschäfte machen, dass er ihm vertrauen konnte.
    Jetzt fehlte er ihm. In dieser dunklen, kalten Höhle, in der sich alle Blicke auf ihn richteten, in der ein Mann in einem blutbefleckten Kittel ein schmutziges Tuch hob, in der seine Frau in der Tür stand und ihn beobachtete, als wäre er der Täter, fühlte er sich allein wie nie zuvor in seinem Leben.
    Es war Michael. Natürlich war es Michael, er hatte es die ganze Zeit geahnt, nein, gewusst. Was hatte er am Kopf? Warum fehlte da ein Stück? Um Gottes willen, Michael, was haben sie mit dir gemacht? Du hattest Recht, ich hätte auf dich hören sollen, aber warum warst du nicht zufrieden mit dem, was wir erreicht hatten? Warum war es nicht genug?
    Richard Owen hatte für einen kurzen Moment das Gefühl zu platzen, er wollte schreien und um sich schlagen, er wollte seinen Sohn an sich reißen und ihn mitnehmen, heraustragen aus dieser elenden Gruft. Ihn wenigstens berühren, ihn noch einmal streicheln. Aber er hatte sich vorab fest vorgenommen, nicht die Fassung zu verlieren. Keine Tränen. Nicht hier. Nicht vor diesen Unbekannten.
    Der China-Preis, schoss es ihm durch den Kopf. Der China-Preis.

XII
    Victor Tang saß im Fond seines Mercedes 500, der so neu war, dass weder sein Fahrer, geschweige denn Victor selbst, Zeit gehabt hatten, sich mit den Funktionen und Finessen der vielen Knöpfe, Schalter und Armaturen vertraut zu machen. Tang hörte seinen Chauffeur fluchen, nachdem er schon wieder einen falschen Knopf gedrückt hatte. Mit ein paar harschen Worten wies Tang ihn an, die Musik lauter zu stellen und sich zu zügeln: Chinesische Flüche vertrugen sich nicht mit Beethovens Kreutzer-Sonate. »Lauter, habe ich gesagt. Noch etwas lauter.« Aus den vier Lautsprechern klang die langsame Einleitung klar und sauber, ohne das leiseste Scheppern oder störende Verzerrungen, sie füllte das Auto bis in den letzten Winkel. Vom Motor war weder etwas zu hören noch zu spüren, und Tang hatte das Gefühl, eher in einem Konzertsaal zu sitzen als in einem Wagen. Das Zusammenspiel von Violine und Klavier half ihm, sich zu konzentrieren.
    Richard Owen bereitete ihm Sorgen. Der hatte ihn gestern Abend, nach der Identifizierung der Leiche, vom Hotel in Hongkong aus angerufen. Nach wenigen Sätzen war seine Stimme brüchig geworden, und er hatte angefangen zu weinen, bitterlich zu weinen. Tangs vorsichtige Versuche, ihn zu trösten, blieben erfolglos, und irgendwann hatte Richard einfach aufgelegt.
    Mit dieser

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