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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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tiefer, sie erfüllte ihn mit Scham und kränkte ihn, er war ein erwachsener Mann, der sich mit dreiunddreißig Jahren nicht hilflos wie ein Kind fühlen wollte. In diese Scham mischte sich eine unbestimmte Wut, von der er zunächst nicht wusste, woher sie kam oder gegen wen sie sich richtete, die ihn aber in den folgenden Jahren wie ein Schatten begleiten sollte.
    Die Provinzregierung hatte ihn kärglich ausgestattet. In seiner Jackentasche steckte ein Umschlag mit fünf Zwanzigdollarnoten, außerdem hatten sie ihm einen dunkelblauen Anzug besorgt, dabei allerdings nicht auf seine, für einen Chinesen aus Sichuan ungewöhnlichen Maße geachtet: Die Ärmel des Jacketts reichten nicht einmal bis zum Handgelenk, die Hosen nicht bis zu den Knöcheln. Schuhe in seiner Größe hatten sie gar nicht bekommen, sein altes Schuhwerk war so verschlissen, dass er am liebsten barfuß gegangen wäre. Beim Abflug in Peking war es ihm kaum aufgefallen, hier konnte er es nicht übersehen: In dieser Kleidung machte er eine lächerliche, absolut groteske Figur.
    Tang sollte vom Flughafen nach Manhattan fahren und dort, bevor er nach Harvard weiterreiste, beim chinesischen Konsulat vorsprechen. Er sah eine endlose Reihe gelber Taxen und erkundigte sich höflich, was die Fahrt in die Stadt kostete. Anfangs glaubte er, den Mann mit dem Turban falsch verstanden zu haben. Der Fahrer verlangte mehr Geld, als seine Mutter in Chengdu in einem Monat verdiente, niemals würde er eine solche Summe für eine Autofahrt bezahlen, eher ginge er zu Fuß in die Stadt. Der Bus war ebenfalls viel zu teuer, so tat Tang etwas, wovon das Konsulat allen Austauschstudenten eindringlich abriet: Er trotzte den Warnungen vor Überfällen und fuhr mit der U-Bahn nach Manhattan.
    In der Untergrundbahn fühlte er sich sicherer. Zwischen den vielen Menschen mit brauner und schwarzer Hautfarbe, die selbst erschreckend nachlässig gekleidet waren und ihm nicht die geringste Beachtung schenkten, fiel seine Maskerade nicht weiter auf. Das Rumpeln der alten, heruntergekommenen Waggons auf den ausgefahrenen Gleisen erinnerte ihn an den jämmerlichen Zustand der Züge in seiner Heimat. Irgendwann verschwanden sie in einem Tunnel, aus dem sie nicht mehr auftauchten, und Tang spürte, wie ihm ein wenig schwindelig wurde. Er klammerte sich an die silbrige Metallstange vor ihm und hoffte, dass die Beschwerden bald vorübergingen.
    Die Station auf der Dreiundfünfzigsten Straße war voller Menschen, die Enge und die warme stickige Luft auf dem unterirdischen Bahnhof machten das Schwindelgefühl noch schlimmer. Der Bahnsteig war unangenehm schmal, Tang ging die Treppe hinauf, lief durch einen Tunnel Richtung Ausgang und zwängte sich dort durch eine schwergängige Tür. Draußen atmete er mehrmals tief durch, hielt sich mit einer Hand am Treppengeländer fest, die andere umfasste den Koffer. Er stieg Stufe für Stufe aus dem U-Bahn-Schacht. Auf dem vorletzten Absatz blieb er stehen und schaute sich um. Er traute seinen Augen nicht. Sein Blick führte über den Bürgersteig, über die Straße, blieb an einem Schaufenster voller Taschen und Koffer haften, kletterte an der Fassade des Hauses hinauf. Stockwerk für Stockwerk tastete er sich vor Richtung Himmel, hoch und immer höher, bis er den Kopf in den Nacken legen musste, um die Spitze des Wolkenkratzers zu sehen. Nie zuvor hatte er vor einem auch nur annähernd so hohen Haus gestanden.
    Tang drehte sich langsam im Kreis, wie ein Kind, das sich nicht entscheiden kann, in welche Richtung es laufen will. Er ging die Lexington Avenue hinunter, wandte sich dabei fortwährend nach links und nach rechts und wusste nicht, wohin er zuerst gucken sollte. Manchmal wollte er einfach stehen bleiben, aber dann rempelten ihn sofort Passanten an, und ihr Ärger, ihre Flüche trieben ihn weiter. Er bog ziellos in die Einundfünfzigste Straße ein, überquerte die Madison Avenue, dann die Park Avenue, in deren Mitte Blumen blühten, stolperte mehrfach über Wasserhydranten und Papierkörbe, verkroch sich schließlich minutenlang in einen Hauseingang und staunte. Er konnte sich nicht sattsehen an den schnurgeraden Straßenschluchten mit ihren rot, gelb und grün leuchtenden Ampeln, an dem gleißenden Licht der Sonne, das sich in den gläsernen Fassaden mancher Türme spiegelte, an den vielen Autos, den prall gefüllten Läden, vor denen sich keine Menschenschlangen bildeten.
    Er spürte, wie sein Bild von der Welt, an dem so viele Menschen über

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