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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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von seiner Welt. Sie verstanden nicht, wie hungrig seine Landsleute waren, und sie würden es nie ganz begreifen. Das war weder ihre Schuld noch ihr Versagen, aber es war so. Und er, Victor Tang, gehörte zu den anderen, nicht zu ihnen, auch wenn er jetzt mit ihnen in derselben Mensa aß, Bluejeans, Sweatshirts und Baseballmützen trug, Schweinerippen grillen konnte und wusste, was ein Quarterback und ein Fastball waren. Er gehörte trotzdem nicht dazu und würde auch in Zukunft nie dazugehören, selbst wenn er wollte. Er war hier Gast, er gehörte in die Welt der anderen, er kannte den Hunger, die Verzweiflung und Gier, die Willenskraft und Leidensfähigkeit, die dort herrschten. Es waren seine Eigenschaften. Sie hatten ihn bis nach Harvard gebracht, bis an diesen Tisch, und sie würden ihn noch weitertreiben. Dorthin, wo niemand mehr über ihn lachte.
    Er hörte ihr Lachen manchmal noch heute, wenn er die neuesten Zahlen des Handelsbilanzüberschusses sah, den China mit Amerika erwirtschaftete, oder die monatlichen Umsatzsteigerungen von Cathay Heavy Metal.
     
    Er blieb vier Jahre in Harvard. Aufgrund seiner Begabung und trotz seines Alters war sein Stipendium nach zwei Jahren noch zweimal um je ein weiteres Jahr verlängert worden. Im Frühsommer 1989 lief sein Stipendium aus. Zur gleichen Zeit demonstrierten die Studierenden in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens für Freiheit und Demokratie. Als die Regierung den Ausnahmezustand verhängte, reiste Victor Tang gerade mit dem Bus durch Arkansas. Als die Volksbefreiungsarmee aufmarschierte, die Panzer durch die Straßen der Hauptstadt rollten, saß er in Los Angeles am Strand und blickte auf den Pazifik, auf dessen anderer Seite seine Heimat lag.
    Er hätte bleiben können. Nichts wäre einfacher gewesen. Ein Antrag auf politisches Asyl, ein schriftliches Bekenntnis zum American way of life, ein Hinweis auf einen fiktiven Verwandten, der in seinem Kampf für Freiheit und Demokratie in den Straßen Pekings von einem Panzer der PLA zermalmt wurde, hätten genügt. So machten es in den folgenden Wochen und Monaten Tausende von chinesischen Studenten in Amerika, und sie wurden großzügig willkommen geheißen. Tang hatte eine Assistentenstelle an der Universität von Kalifornien in Los Angeles in Aussicht, und auch in Harvard hätte man mit Sicherheit etwas für ihn gefunden.
    Tang zögerte tatsächlich, aber nur für zwei Tage.
    Die Gespräche auf dem Campus und mit den Professoren in Los Angeles zerstreuten jeden Zweifel an seiner Entscheidung zurückzukehren. In ihrem Mitleid, in ihrer Empörung über die Ereignisse in Peking lag zu viel Selbstgerechtigkeit, in ihren Angeboten, in Amerika zu bleiben, zu viel Selbstzufriedenheit. Er wollte nicht als Exilant auf Veranstaltungen und Empfängen herumgereicht werden, bestaunt als Exot, dem es gerade noch gelungen war, dank amerikanischer Hilfe, das würde niemand unerwähnt lassen, seinen Kopf aus der kommunistischen Schlinge zu ziehen. Tang wollte nicht wieder als ein lebendes Beispiel dienen für die Überlegenheit eines Systems, das war er lange genug gewesen.
    Er wollte zurück. Sein Platz war in China, alles andere wäre Verrat gewesen. Seine Zeit würde kommen. Er war noch jung genug, mit seiner amerikanischen Ausbildung gehörte ihm in seiner Heimat die Zukunft, das hatte er in dem heruntergekommenen Coffee-Shop in Montana begriffen, auch wenn er noch Geduld haben musste. Der Ausnahmezustand, die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens waren nicht mehr als Rückschläge und fallende Kurse kein Grund zur Panik, es waren buying opportunities , das hatte ihm sein Professor in Harvard überzeugend erklärt. Chinas Kurs war im Sommer 1989 ganz unten, am Boden, tiefer ging es nicht. Wirtschaftssanktionen. Handelsembargo.
    Investitionsstopp. Empörung über die »Schlächter von Peking«. Es glich, aus der Sicht eines Analysten, einer dramatisch unterbewerteten Firma, einen besseren Zeitpunkt zum Einstieg gab es nicht.
    Nur ein Idiot konnte glauben, dass das von langer Dauer sein würde. Nur ein Ignorant konnte glauben, dass am Ende nicht alles von denen gefertigt wird, die es am billigsten machen.
    Die Welt brauchte China. China brauchte die Welt.
    Nach vier Jahren in Amerika war er der festen Überzeugung, dass das Land der unbegrenzten Möglichkeiten in Zukunft nicht mehr auf der amerikanischen Seite des Pazifiks lag.
    Daran zweifelte er auch in den folgenden drei Jahren nicht, als China, infolge

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