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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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besucht hatten. In denen sie Zeit gehabt hatten zu spielen, zu lesen, was sie wollten, und zu lernen, was ihnen wichtig war. Dreißig Jahre Vorsprung.
    Victor Tang hatte keinen Tag mehr zu verschenken. Er lernte so verbissen, dass er nicht einmal Zeit hatte, seine Kommilitonen zu beneiden. Er wollte verstehen, was Amerika so erfolgreich machte, es musste ein Geheimnis geben für die Überlegenheit des Westens, und das wollte er ergründen.
    Seine Tage begannen um fünf Uhr in der Früh, während seiner Zeit in Harvard kam er mit vier Stunden Schlaf aus, und nachdem es an seinem Englisch kaum mehr etwas zu verbessern gab, verschlang er noch vor und nach den Seminaren jedes Buch in der Universitätsbibliothek über den amerikanischen Bürgerkrieg, über die Zeit der Räuberbarone und die große Depression. Zusätzlich belegte er Kurse in Philosophie, Wirtschaftswissenschaften, Literatur und Geschichte.
    Unter den Studierenden war er berühmt für seine Fähigkeit, sich in fünf Minuten Schlafenszeit zu regenerieren: Er konnte jederzeit und überall, in der Mensa, in der Seminarpause oder der Bibliothek, den Kopf auf die verschränkten Arme legen und kurz einnicken, egal welcher Trubel ihn umgab. Die anderen respektierten ihn als Sonderling, dessen Fleiß und obsessiver Wissensdurst ihnen ein wenig unheimlich waren. Wie sollte er es ihnen erklären? Wie sollte ein satter, wohlgenährter Mensch je die verzweifelte Gier eines Hungernden verstehen? Dreißig Jahre. Ein halbes Leben!
    In den Semesterferien bereiste er mit dem Greyhound-Bus fast alle amerikanischen Bundesstaaten, und als er in einem Coffee-Shop in Butte, Montana, versehentlich seinen Plastikbecher mit Eistee umstieß und las, was auf dem Boden des Bechers stand, wusste er von einer Sekunde zur anderen, dass er gefunden hatte, wonach er suchte. Made in China stand auf dem Plastik. Es war das erste Mal, das er in Amerika bewusst ein Produkt wahrnahm, das in seiner Heimat hergestellt worden war. Warum wurden die Plastikbecher nicht in Texas, Florida oder Kalifornien produziert? Weil sie in China billiger hergestellt werden konnten, selbst wenn man die Transportkosten draufschlug. Was für Plastikbecher galt, könnte doch auch für Plastikspielzeug funktionieren. Oder Gummistiefel. Hosen. Hemden. Pullover. Oder, viel später einmal, Fernseher. Telefone. Kühlschränke. Autos. Wenn eine der Lehren, die er aus seinen Seminaren der Wirtschaftsgeschichte gezogen hatte, richtig war, dann wird am Ende jedes Produkt von dem gefertigt, der es am billigsten herstellen kann. Das war so selbstverständlich wie die Tatsache, dass Wasser immer bergab fließt. Ein Naturgesetz der Volkswirtschaft.
    Als er kurz darauf in der Mensa einigen Kommilitonen von seinen Gedanken erzählte, lachten sie ihn aus. China? Fernseher aus China? Die gab es dort doch praktisch gar nicht. Telefone? Aus einem Land, in dem nur einer von zehntausend Bewohnern eines besaß? Autos? Sie kicherten und gackerten, sie schlugen sich auf die Schenkel vor Lachen, als hätte er ihnen zum Brüllen komische Witze erzählt. China produzierte nicht einmal sechstausend Autos im Jahr. Tang musste verrückt geworden sein. Wenn überhaupt, würden diese Produkte irgendwann einmal aus Mexiko kommen. Oder Brasilien. Vielleicht auch aus Indien, aber doch nicht aus dem armen, kommunistisch regierten China.
    Wie konnten sie über ihn und seine Idee von einem China als Fabrik der Welt nur so lachen? Dort warteten eintausenddreihundert Millionen Hungernde auf ihre Chance. Warum sahen sie nicht, was so offensichtlich war. Irrte er sich, oder mangelte es den amerikanischen Studierenden an Vorstellungskraft? In diesem Moment begriff Victor Tang, dass die ersten dreißig Jahre seines Lebens nicht so vergeudet gewesen waren, wie er es bisher geglaubt hatte. Er hatte zwar die Schule während der Kulturrevolution nur unregelmäßig besucht, er hatte, bevor er nach Amerika kam, keine Ahnung von Geschichte, von Wirtschaft, Jura, Literatur oder klassischer Musik, dafür aber hatte ihn das Leben wichtige Lektionen gelehrt.
    Sie hatten nicht den leisesten Schimmer, woher er kam. Ihr Lachen machte ihm klar, wie privilegiert er war. Nicht im Vergleich zu den Menschen in seiner Heimat, das wusste er ohnehin, nein, im Vergleich zu den jungen Männern und Frauen, die vor ihm saßen, die ihr bisheriges Leben in Stadtvillen und Landhäusern verbracht hatten. Er begann langsam, ihre Welt zu verstehen, sie aber hatten nicht die geringste Ahnung

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