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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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immer und überall Handel trieben. Er sehnte sich oft nach der entspannten Gelassenheit, die er aus Chengdu kannte. Mei musste ihm immer wieder versprechen, dass sie nach seiner Pensionierung zurück in seine Heimatstadt ziehen würden.
    Den Männern um ihn herum ging es offenbar ähnlich. Sie erzählten von ihrem Heimweh und den Problemen der Unverheirateten, eine Frau zu finden, vom Traum, mit gespartem Geld in Chengdu oder Chongqing einen kleinen Laden, ein Teehaus oder ein Restaurant zu eröffnen. Eigentlich hatten sie nur zwei Jahre bleiben wollen, doch nun waren sie schon fünf oder sechs hier, und ein Ende war nicht absehbar. Mit ihrem Lohn ernährten sie die Familien in ihren Dörfern. Er sah die Trauer in ihren Gesichtern, ihre Schwermut, ihre Erschöpfung und Müdigkeit. Er kannte ihre Geschichten. Es waren die typischen Geschichten der Wanderarbeiter, die fast nie genug Geld sparen konnten, um ein eigenes Geschäft zu eröffnen, die arbeiteten, bis ihre Körper für immer erschöpft und ausgelaugt waren, um dann zurückzukehren zu Familien, die ihnen mit den Jahren fremd geworden waren und mit denen sie oft nicht mehr verband als eine entsetzliche Sprachlosigkeit.
    Je länger David zuhörte, desto mehr erzählten die Männer. Menschen zum Sprechen zu bringen war eine seiner Gaben. Mei fragte manchmal, wie er das schaffte, warum in seiner Gegenwart Leute Dinge erzählten, die sie sonst immer für sich behielten. Er wusste es selbst nicht.
    Als der Hotpot fast verzehrt war und die Reihe der leeren Bierflaschen um den halben Tisch reichte, berichteten die Männer von ihrer Arbeit bei Cathay Heavy Metal. Sie beklagten sich nicht. Die Behandlung durch das Management war nicht besser oder schlechter als in vielen anderen Fabriken. Sie arbeiteten zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, manchmal auch mehr, und bekamen eine Woche Urlaub pro Jahr. Sie teilten sich jeweils zu acht ein Zimmer und verdienten knapp tausend Yuan im Monat. Das genügte für die abendlichen Biere und gelegentliche Restaurantbesuche, den Großteil schickten sie zu den Eltern und Geschwistern zurück nach Sichuan. Sie wollten nicht klagen, das Leben bestand aus Arbeit, woraus sonst, und im Vergleich zu ihren Vätern ging es ihnen gut, die hatten noch viel härter geschuftet, hatten tagein tagaus Schiffe gegen die Strömung den Yangtse hochziehen müssen, eine grausame Plackerei, bei der nicht wenige vor Erschöpfung tot zusammengebrochen waren. Von den paar Yuan, die sie dafür bekamen, hatten sie nicht einmal ihre Familien richtig ernähren können. Sie würden an ihre Väter denken, wenn ihnen ihre Arbeit mal wieder zu schwer oder gefährlich erschien.
    »Wieso gefährlich?«, fragte David beiläufig.
    Die Runde lachte über Davids naive Frage. Die Männer hoben ihre Biergläser und stießen auf Li und Yang an, die vor zwei Wochen bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen waren. Arbeitsunfälle hätten sich bei Cathay Heavy Metal in den vergangenen Monaten gehäuft. Kein Wunder, wenn die Produktion so schnell ausgeweitet wird und man so viele unerfahrene junge Männer einstellt. Das hätten sie dem Management auch schon häufiger gesagt, aber wer sich zu laut beschwert, dem geht es wie Yee. Den hatte der Werkschutz eines Abends halbtot geschlagen und ihn anschließend samt seiner wenigen Habseligkeiten vor das Tor geworfen.
    Vor zwei Wochen wäre es fast zu einer Massenprügelei gekommen. Da hatte ein junger Ausländer die Fabrik besucht, angeblich war er der amerikanische Joint-Venture-Partner, und einige Arbeiter hatten wegen der mangelnden Sicherheit mit ihm reden wollen. Sie hatten auf Vorschlag des Managements eine Petition verfasst, die sie ihm übergeben wollten. Es war zu einem Handgemenge gekommen, das Papier fiel zu Boden, jemand trat drauf, was einige der Männer als Beleidigung und Gesichtsverlust empfanden und sie erst richtig wütend machte. Am Ende war der Ausländer in seinen Wagen geflüchtet, den die Arbeiter umringten und an dem sie rüttelten, als wollten sie ihn umwerfen.
    Und der Werkschutz, fragte David verwundert. Wo war der?
    Der habe zugeschaut und erst sehr spät eingegriffen.
    Warum?
    Die Arbeiter überlegten. Das hatten sie sich auch schon gefragt, waren aber zu keiner schlüssigen Antwort gekommen. Unachtsamkeit oder Schlamperei waren jedenfalls nicht die Gründe, da waren sie sich sicher.
     
    Zurück im Präsidium überprüfte David Zhang das Kennzeichen des Mercedes. Das Auto gehörte »CWI«,

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