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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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so viele Jahre gearbeitet hatten, sich vor seinen Augen auflöste, zischend, wie ein Tropfen Wasser, der auf eine glühend heiße Platte fällt. Dies war der Moment, in dem sein Leben eine neue Wendung nahm.
    Tang begriff, dass man ihn belogen hatte. Mehr als dreißig Jahre lang. Tag für Tag. Von morgens bis abends. Sie hatten ihm Märchen aufgetischt. Er hatte ihnen als Kind, als junger Mensch das Kostbarste gegeben, was er besessen hatte, sein Vertrauen, und sie hatten es ausgenutzt. Wo waren sie jetzt, die Lehrer, die Parteisekretäre, der Große Vorsitzende und seine vielen kleinen Helfer? Was würden sie sagen? Wie würden sie es ihm erklären?
    Er war in dem Glauben aufgewachsen, das Glück auf seiner Seite zu haben, in einem Land zu leben, das dem Rest der Welt in allen Belangen überlegen war. Sie hatten nicht viel zu essen, aber die Lehrer hatten ihm oft erzählt, wie viel schlechter es den Kindern in Europa und Amerika ging, die in Lumpen gekleidet durch die Straßen liefen und deren leere Mägen vor Hunger knurrten. Sie hatten in der Schule für eine Woche auf ihr Mittagessen verzichtet, damit die armen Kinder in Amerika endlich auch einmal satt wurden. Opfer bringen für Amerika, hieß die Kampagne. Hungern für Amerika! Und sie hatten mitgemacht! Voller Eifer und Begeisterung! Im sicheren Gefühl der Überlegenheit.
    Er hatte ihnen vertraut, als sie zu Beginn der großen proletarischen Kulturrevolution seinen Vater, den treuen PLA-Offizier, verhafteten. Irgendwas, dachte Tang, würde schon dran sein an den Vorwürfen der Partei. Er hatte ihnen vertraut, als sie ihn aufs Land schickten, um von den Bauern zu lernen, als er zu den Roten Brigaden kam und es hieß, er müsse die Revolution gegen bourgeoise Elemente und veraltetes Denken, gegen Revisionisten und Konterrevolutionäre verteidigen, notfalls mit Gewalt. Er hatte jedem ihrer Befehle gehorcht, nicht aus Furcht, sondern aus tiefster Überzeugung. Weil er ihnen glaubte. Weil er ihnen vertraute. Jetzt lief er durch die Straßen Manhattans und wusste: Vertrauen war etwas für Schwache. Für Menschen, die nicht den Mut aufbrachten, selbst die Wahrheit zu suchen. Für Menschen, denen die Kraft fehlte, etwas nachzuprüfen, die zu feige waren, aus Lügen die Konsequenzen zu ziehen. Die lieber glaubten, als Gewissheit zu erlangen. Es war nichts mehr für ihn. Victor Tang hatte in seinem Leben genug Vertrauen vergeudet.
    Natürlich hatte er vor seiner Ankunft in New York gewusst, dass China dem Westen, insbesondere den Vereinigten Staaten, was die Wirtschaftsentwicklung und den Lebensstandard betraf, unterlegen war, die Provinzregierung in Sichuan hatte ihn vorbereitet auf diese Reise, er kannte all die Zahlen und Statistiken, er hatte Bilder gesehen und Bücher gelesen, und trotzdem traf ihn dieser Anblick, trafen ihn die ersten Eindrücke auf den Straßen Manhattans wie ein Hieb, vor dem er sich nicht hatte schützen können. Er war zutiefst verstört darüber, wie wenig Zahlen auszudrücken vermochten. Das Wesentliche war selbst in Worten und Bildern nicht zu fassen.
    Die ersten Monate in Harvard waren schwierig gewesen, und er hatte manchmal nicht gewusst, wie er die Tage überstehen sollte. Die Ruhe und der viele Platz machten ihn beklommen, die Schönheit der alten Gebäude, die Eleganz der Anlage schüchterten ihn ein. Fast alle Studenten und Professoren waren ausnehmend freundlich und hilfsbereit zu ihm, aber ihre Großzügigkeit war für ihn oft schwer zu ertragen. Sie luden ihn zum Essen in ihre Stadthäuser ein, er verbrachte manches Wochenende in prächtigen Villen auf dem Land, er berichtete aus China, sein Publikum staunte höflich, ohne sich wirklich zu interessieren oder zu verstehen, was er ihnen schilderte. Wie sollten sie auch? Tang fühlte sich bei diesen Abendessen immer unwohl, er war der arme Vetter, daran konnte ihre Großzügigkeit nichts ändern, im Gegenteil, sie machte es jedes Mal aufs Neue deutlich. Er war dabei und gehörte doch nicht dazu.
    Was ihn rettete, waren sein Fleiß, seine Begabung und sein Ehrgeiz, nicht eine Minute, die er hier verbrachte, zu verschwenden. Er studierte mit einer Besessenheit, als stünde am Ende dieser Zeit eine Prüfung, die über Leben oder Tod seiner Familie entscheide. Er wollte sich vollsaugen wie ein Schwamm.
    Er war gezwungen worden, die ersten dreißig Jahre seines Lebens zu vergeuden. Dreißig Jahre, in denen seine amerikanischen Kommilitonen Kindergärten, normale Schulen und Colleges

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