Das Flüstern der Schatten
der Studentenproteste und des Militäreinsatzes, politisch und wirtschaftlich erstarrte. Eine bleierne Schwere legte sich über das Land, geplante ausländische Investitionen wurden wieder abgesagt oder suspendiert, beschlossene Wirtschaftsreformen ausgesetzt oder ganz zurückgenommen. Die Staatssicherheit machte Jagd auf die Anführer der Proteste, und ihre Anhänger, Hunderte von ihnen, verschwanden in Arbeitslagern und Gefängnissen. In der Partei wurden alle geschasst, die ihre Sympathien für die Forderungen der Studenten zu offen gezeigt hatten, in Peking stritten die liberalen und konservativen Fraktionen der Kommunistischen Partei um die Zukunft Chinas, und es war ungewiss, wie diese Machtkämpfe ausgehen würden. War der neue Parteichef Jiang Zemin ein Reformer, oder wollte er zurück zur sozialistischen Planwirtschaft? Auf welcher Seite stand Deng Xiaoping? Welchen Einfluss hatte der alte Mann noch? Die Lähmung des Landes reichte hinunter bis zu den untersten Ebenen der Partei und der verschiedenen Provinzregierungen: Niemand wagte etwas zu entscheiden, weil jeder Angst hatte, am Ende der Kämpfe politisch auf der falschen Seite zu stehen.
Tang interessierte das alles nur am Rande. Er saß in Chengdu in einer Art Amt für Wirtschaftsentwicklung, war praktisch beschäftigungslos und verbrachte seine Zeit damit, Kontakte zu knüpfen und Pläne zu schmieden. Für ihn war die Fortsetzung der Reformpolitik nur eine Frage der Zeit, es gab, das hatte er in Amerika gelernt, eine wirtschaftliche Logik, der sich auf Dauer niemand widersetzen konnte, und sie machte eine weitere Öffnung des Landes unumgänglich.
Dann, im Frühjahr 1992, brach Deng Xiaoping mit seiner Familie zu seiner Reise durch den Süden Chinas auf. Seine Ansprache in Shenzhen, seine Aufforderung zu weiteren mutigen Wirtschaftsreformen waren das Zeichen, auf das Tang - und mit ihm beinahe das ganze Land - gewartet hatte. Noch im Sommer überzeugte er die Provinzregierung in Sichuan, ihn in die Sonderwirtschaftszone Shenzhen zu schicken, um dort nach Investitionsmöglichkeiten Ausschau zu halten und Kontakte zu ausländischen Investoren zu knüpfen. Er gründete in ihrem Auftrag mehrere Firmen, baute eine Schuhfabrik, eine für Plastikgeschirr und eine für Weihnachtsschmuck auf, machte sich mit einer Bau- und Immobilienfirma selbstständig und erlebte, wie seine Vision von einem China als Fabrik der Welt ganz langsam Formen annahm.
Das Finale der Kreutzer-Sonate klang aus, und Tang sagte seinem Fahrer, er soll das Violinkonzert von Beethoven auflegen, für den ersten Satz müsste ihre Zeit noch reichen.
Sie passierten eine Unfallstelle, an der mehrere Polizisten den Verkehr vorbeiwinkten, auf der rechten Spur stand ein zerbeulter Minibus, davor lag ein Motorrad, daneben erkannte Tang unter einem Tuch die Konturen eines Menschen. Der Mercedes nahm allmählich wieder an Fahrt auf, und genau zwanzig Minuten später rollten sie durch das Tor der Cathay Heavy Metal Fabrik. Er blieb für die letzten eineinhalb Minuten des ersten Satzes des Violinkonzertes im Auto sitzen und betrachtete das Fabrikgelände. Aus den drei Schornsteinen stieg dichter weißer Qualm, im vorderen Teil des Hofs wurden mehrere Container beladen, weiter hinten standen zwei große Lastwagen, die neuen Stahl anlieferten. Die Fabrik arbeitete an der Grenze ihrer Kapazität, sie kamen mit der Produktion kaum nach, es war höchste Zeit, dass sie mit dem Bau einer zweiten Anlage begannen. Tang hatte früh auf den Boom in der chinesischen Autoindustrie gesetzt. Er hatte mit einer kleinen Klitsche angefangen, sie war schnell gewachsen, aber erst mit Hilfe der Owens, ihrer langen Erfahrung und ihren Kontakten zu den großen amerikanischen Konzernen war daraus in den vergangenen drei Jahren eine Goldgrube geworden. Und das war erst der Anfang. Die besten Jahre lagen noch vor ihnen. China wuchs gerade zum größten Automarkt der Welt, der Traum von einem eigenen Wagen schien allen Menschen eigen zu sein, ob sie nun Amerikaner oder Chinese waren. Tang profitierte davon, und das würde er sich von niemandem nehmen lassen. Um keinen Preis.
Vor dem Bürogebäude parkten bereits die Limousinen des Polizeipräsidenten und des Leiters der Mordkommission. Beide waren mehr als alte Bekannte. In einer Stadt wie Shenzhen musste man als Unternehmer die wichtigsten Parteifunktionäre, aber auch die Polizei auf seiner Seite wissen. Dafür hatte er gesorgt. Der Leiter des Präsidiums verdankte ihm
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