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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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vermutlich war Victor Tang in der Fabrik gewesen. Er rief in der Zentrale des Fahrdienstes an und erkundigte sich, wer am Nachmittag die beiden Dienstwagen benutzt hatte. Den Mann am anderen Ende kannte er nicht, wahrscheinlich eine Aushilfe.
    »Niemand«, sagte die ihm unbekannte Stimme.
    »Sind Sie sicher?«
    »Es ist nichts eingetragen.«
    »Ich bin mir ziemlich sicher, die Autos gesehen zu haben«, antwortete David verdutzt.
    »Wo soll das gewesen sein?«
    David zögerte. Warum wollte der Mann das wissen? Mit wem sprach er? »Ist schon in Ordnung. Habe ich mich wohl getäuscht«, sagte er und legte auf.
    Er hasste es zu misstrauen.
    Kurz darauf rief Chefkommissar Lo Ming-Leng die Mordkommission zu einer Sitzung zusammen. Lo war früher ein guter Bekannter Davids gewesen, sie hatten einige schwierige Fälle gemeinsam aufgeklärt, und David hatte seinen Kollegen als einen zähen und scharfsinnigen Ermittler schätzen gelernt. Außerdem teilten sie die Leidenschaft für chinesische Weisheiten und Aphorismen, waren oft zusammen essen gegangen und hatten sich wortgewaltige Duelle geliefert, bei denen sie ein Sprichwort mit dem nächsten beantworteten, bis einem von beiden kein passendes mehr einfiel. Mit Los Beförderung vor fünf Jahren zum Leiter der Abteilung war ihr privater Kontakt zunehmend weniger geworden, Lo war nun vor allem mit Interna der Behörde und Partei beschäftigt, und die einstige Vertrautheit war einem Misstrauen gewichen, das mit jedem Fall stieg, bei dessen Bearbeitung David ein »Geschenk« oder eine »Aufmerksamkeit« ablehnte.
     
    Lo Ming-Leng begrüßte die Kollegen mit knappen Worten. Er war in großer Eile, wollte sie aber trotzdem kurz über erfreuliche Entwicklungen in dem Mordfall Michael Owen informieren. Gleich die ersten, von ihm selbst angestellten Ermittlungen hatten zu einer viel versprechenden Spur geführt. Es gab bereits einen Verdächtigen, Tzu, ein dreißigjähriger Arbeiter aus der Provinz Sichuan, der in der Gießerei von Cathay Heavy Metal Hilfsdienste verrichtete. Er hatte sich mit Michael Owen am Abend vor seinem Verschwinden am Fabriktor gestritten. Angeblich sei es um die niedrigen Löhne und die schlechte Sicherheit der Arbeiter in der Fabrik gegangen, der Amerikaner und Tzu hatten das Gelände gemeinsam verlassen, das bezeugten mehrere Wachposten. Am nächsten Tag war Tzu nicht zur Arbeit erschienen. Nach ihm wurde bereits gefahndet. Lo erklärte den Kollegen, ihre ausschließliche Aufgabe sei es, bei der Fahndung zu helfen und bis auf weiteres keine selbstständigen Ermittlungen anzustellen. Mit etwas Glück könnte der heikle Fall schon morgen gelöst sein.
    David sah, wie seine Kollegen erleichtert aufatmeten.
    »Was wissen wir über Tzu?«, fragte David. Schon seine Stimme ließ die meisten von ihnen zusammenfahren.
    »Noch nicht viel. Er arbeitet seit einem Jahr in der Fabrik. Ein Photo und alle persönlichen Daten bekommen wir heute Nachmittag aus der Personalabteilung von Cathay Heavy Metal. Ich werde euch informieren, sobald wir sie haben.«
    Die Polizisten erhoben sich und kehrten an ihre Schreibtische zurück. Beim Rausgehen forderte Lo David auf, ihm zu folgen.
    Sein Büro war ein großer, heller Raum am Ende des Ganges, mit einem Vorzimmer und zwei Sekretärinnen. David bemerkte eine neue Sitzgarnitur, ein rotes Sofa und zwei rote Sessel, auf deren Armlehnen weiße Tücher als Stoffschoner lagen.
    »Setz dich«, sagte Lo und bot ihm eine Zigarette und Tee an.
    »Zhang, wie lange kennen wir uns jetzt?«
    Die vertrauliche Ansprache ist ein schlechtes Zeichen, dachte David. »Ich weiß es nicht. Bald fünfzehn Jahre, vermute ich.«
    »Eine lange Zeit, da kennt man sich ein wenig, weiß so einiges voneinander, stimmt’s?«, antwortete Lo und nippte an seinem Tee. »Der Mord an diesem Amerikaner hat dich sehr getroffen.«
    Das war keine Frage, es war eine Feststellung, die keinen Widerspruch duldete. David wusste nicht, worauf sein Vorgesetzter hinauswollte, warum er ihn an die Dauer ihrer Beziehung und die damit einhergehende Vertrautheit und mögliche Verpflichtungen erinnerte, und schwieg lieber.
    »Der Tod eines guten Freundes, seines besten Freundes lässt niemanden unberührt, und natürlich möchte man alles versuchen, den Mörder zu finden. Nein, ich sollte wohl sagen, man ruht nicht eher, bis man ihn hat, habe ich Recht, Zhang?«
    Wie kam er denn darauf, dass Paul und Michael Owen eng befreundet waren?
    »Man wird, vor allem natürlich als

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