Das Flüstern der Stille
und schläfst wieder ein. Ich esse meinen Schokoladenpudding auf und zappe weiter durch die Programme, und als ich wieder zu dir schaue, bist du wach, schaust mich an, als wenn du nicht glauben könntest, dass ich da bin. Dann lächelst du, nur ein kleines bisschen, aber es ist immerhin ein Lächeln. Ich steige aus meinem Bett und gehe zu dir.
„Alles okay?“, frage ich, und du nickst. „Das ist gut“, sage ich. Du schaust mich irgendwie seltsam an, und ich versichere dir schnell, dass es mir auch gut geht. Dann tust du etwas, das mich überrascht. Du ziehst deine Decke zur Seite und klopfst auf den Platz neben dir. Ich klettere zu dir ins Bett, vorsichtig, um die Nadel in deinem Arm nicht zu berühren. Es ist eng in deinem kleinen Krankenhausbett, aber ich quetsche mich rein.
Zu Hause kletterst du manchmal nachts in mein Bett, wenn du nicht schlafen kannst, und ich erzähle dir Geschichten. Oft habe ich dir Märchen erzählt, wie Rotkäppchen oder Die drei kleinen Schweine . Aber manchmal habe ich mir auch einfach etwas ausgedacht, dass du und Petra Prinzessinnen seid und unglaubliche Abenteuer erlebt. Dir haben diese langweiligen Geschichten gefallen. Und ich habe das Gefühl, dass du auch jetzt gern eine hören würdest. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Nach allem, was heute passiert ist, kommt es mir dumm vor, dir jetzt die Geschichte vom Lebkuchenmann zu erzählen. Dann habe ich eine Idee. Vielleicht eine blöde Idee, und ich bin mir sicher, wenn Mom hören würde, was für eine Geschichte ich dir erzählen werde, würde sie mir lebenslangen Stubenarrest verpassen. Aber es sprudelt irgendwie einfach so aus mir heraus.
„Es waren einmal zwei Prinzessinnen, die eine hieß Calli und die andere Petra. Die beiden Prinzessinnen waren wunderschön und klug, und sie waren die besten Freundinnen. Sie machten sich jedoch nicht viel daraus, schön zu sein. Sie dachten, es wäre wichtiger, klug und mutig zu sein. Sie erlebten zusammen viele tolle Abenteuer, in denen sie Drachen bekämpften und Hexen und Trolle. Die Sache war nur die: Prinzessin Calli sprach nicht. Keiner wusste, warum sie nicht sprach, aber sie tat es nicht. Sie war trotzdem klug und mutig. Und sie hatte Prinzessin Petra, die für sie redete. Das war vielleicht ein Team, die beiden. Petra sprach die magischen Worte, und Calli winkte mit ihrer magischen Hand, und schon fiel der feuerspeiende Drache tot um, und die böse alte Hexe verwandelte sich in eine Nacktschnecke.“ An dieser Stelle lächelst du mich an; es ist eine deiner Lieblingsgeschichten, die, in der sich die Hexe in eine Nacktschnecke verwandelt.
„Eines Tages jedoch verliefen Prinzessin Calli und Prinzessin Petra sich im Wald.“ Ich halte kurz inne und schaue zu dir hinüber. Du blickst mich an, als ob du nicht sicher seiest, was ich da mache, aber es sieht nicht so aus, als ob ich aufhören soll, also tue ich es auch nicht. Die Tür öffnet sich, und der Arzt kommt rein, der mit dem verrückten Schlips. Ich denke, vielleicht sollte ich aufhören, die Geschichte zu erzählen, aber er bedeutet mir, ruhig weiterzumachen, da er nur mal nach uns sehen will.
„Also, Prinzessin Calli und Prinzessin Petra verliefen sich im Wald. Sie waren allerdings nicht allein in den Wald gegangen, der Vater von Prinzessin Calli hatte sie dorthin mitgenommen.“ Ich schaue dich erneut an, und du runzelst die Stirn, als ob das, was ich sage, falsch sei. Also versuche ich es noch mal. „Prinzessin Calli und Prinzessin Petra sind allein in den Wald gegangen?“ Du schüttelst den Kopf. Ein neuer Versuch. „Ein Fremder hat Prinzessin Calli und Prinzessin Petra mit in den Wald genommen?“ Wieder nichts. Meine Idee läuft nicht so gut, und ich schaue zu Dr. Higby, der in einer Ecke des Raumes auf einem Stuhl sitzt, wo du ihn nicht sehen kannst. Er nickt mir zu, will, dass ich es weiter probiere.
„Nur Prinzessin Calli wurde von ihrem Vater mit in den Wald genommen, von ihrem Vater, der unter dem Einfluss eines bösen Zaubertranks stand?“ Calli nickt heftig, und ich seufze. Endlich bin ich auf der richtigen Spur.
Martin
Mit der Hand betaste ich die Stelle, wo mich Griff mit der Pistole getroffen hat. Ich kann die Polizeisirenen näher kommen hören und bin erleichtert. Was für eine Dummheit habe ich begangen, hierherzukommen und zu denken, dass ich Gerechtigkeit walten lassen kann wie irgendein allwissender Halbgott. Ich könnte niemals auf jemanden schießen, nicht mal auf den
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