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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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Dad zu denken. Ich fange an, mich ein wenig schuldig zu fühlen wegen all dem, was auf dem Berg passiert ist. Aber was hätte ich denken sollen, da Petra so schwer verletzt war und du so ängstlich ausgesehen hast? Ich glaube, nach dem, was passiert ist, werde ich ihm nie wieder in die Augen schauen können. Ich hoffe, dass Mom es versteht. Ich konnte ihr nicht mal sagen, dass Dad es war, der mir die Nase gebrochen hat, aber ich glaube, tief in ihrem Innern weiß sie es.
    Ich erinnere mich, Calli, dass du, bevor du aufgehört hast zu sprechen, am Fußende meines Betts gelegen und darauf gewartet hast, dass ich aus der Schule nach Hause komme. Jeden Tag. Es hat mir nichts ausgemacht. Du hast meine Sachen immer in Ruhe gelassen – du mochtest meine Steinsammlung, aber eine Steinsammlung konntest du ja nicht kaputt machen. Ich habe meine Zimmertür geöffnet, und da warst du und hast Steine sortiert. Du hattest einen Haufen schwarze Steine, die so metallisch glänzen, einen mit rosafarbenem Felsspat und einen mit gelbem Kalzit. Du hast sie jedoch nicht mit ihren wissenschaftlichen Bezeichnungen benannt, sondern hattest eigene Namen für jeden einzelnen.
    „Das ist das magische Katzenauge“, hast du über meinen schwarzen Obsidian gesagt. Oder du hast meinen glänzenden Quartz hochgehalten und gesagt: „Das ist ein Eisstein. Wenn du ihn im Garten vergräbst, wird alles zu Eis.“
    Manchmal dachte ich, du würdest niemals den Mund halten. Und jetzt, wo du seit so langer Zeit nicht mehr gesprochen hast, kann ich kaum glauben, dass du es jemals wieder tun wirst. Ich würde es niemals zugeben, aber ich spreche immer noch mit dir, und in meinen Gedanken antwortest du mir. Natürlich bin ich immer noch der Ältere, Klügere, und du bist meine kleine Schwester, die natürlich nicht so viel wissen kann wie ich. In meinen Gedanken sagst du: „Ben, glaubst du, dass Dad jemals aufhören wird zu trinken?“ Und ich erwidere: „Ich weiß es nicht, Calli, aber ich glaube, alles ist möglich.“ Oder wir reden einfach über normale, alltägliche Sachen, etwa was es zum Abendessen gibt oder was wir uns im Fernsehen anschauen wollen. Ich wünschte, du würdest jetzt aufwachen und sagen: „Ben, ich will Kanal sieben gucken, gib mir die Fernbedienung!“ Aber das tust du nicht. Ich habe dich nicht ein einziges Mal gefragt, warum du nicht mehr sprichst. Ich weiß, dass es irgendetwas mit dem Tag zu tun hat, an dem Mom ihr Baby verlor. Ich bin von Ray nach Hause gekommen, und Mom lag auf der Couch. Jemand hatte sie mit einer Decke zugedeckt, warst du das? Ich habe dich wieder und wieder gefragt, was passiert ist, aber du hast kein Wort gesagt. Du hast nur auf dem Fußboden neben Mom gesessen, deinen Stoffaffen festgehalten und selbst gewiegt, und ich habe dann Louis angerufen und er den Krankenwagen. Als das Baby rauskam, dachte ich für einen Augenblick, du würdest etwas sagen.
    Ich habe keine Ahnung, wieso sie uns zwei Kinder dabei haben zusehen lassen. Als das Baby aus Mom herauskam und sie es sauber gemacht haben und du deine Hand ausgestreckt hast, um ihr rotes Haar zu berühren, dachte ich, dass du etwas sagen würdest. Aber das hast du nicht. Du hast nur deinen Affen noch ein wenig fester gehalten, dich ein bisschen schneller gewiegt, bis jemand uns bemerkt und Mrs. Norland angerufen hat, damit sie sich um uns kümmert. Am Anfang dachte ich, dass es für dich so schrecklich gewesen ist, Mom die Treppe hinunterfallen zu sehen. Aber ich habe dich beobachtet. Ich habe dich danach sehr genau beobachtet. Ich habe dich beobachtet, wenn du bei Mom warst und wenn du bei mir warst. Und ich habe dich beobachtet, wenn du bei Dad warst, und da konnte ich es ganz klar sehen. Dein kleines Gesicht wurde ganz steif, und du hast deine Finger richtig fest zusammengeballt, wenn er den Raum betrat. Es war nicht für jeden offensichtlich, aber ich wusste, dass irgendetwas los war. Ich glaube, Mom wusste es auch, aber sie hat nie etwas gesagt. Manchmal denke ich, dass das Moms Fehler ist: Sie sagt nie etwas, wenn sie eigentlich sollte.
    Ich glaube, du wachst auf. Du wälzt dich unruhig hin und her, versuchst, deine Augen zu öffnen, aber es gelingt dir nicht. Du bist so müde. Halb habe ich Angst, dass du wieder zu schreien anfängst, wenn du die Augen öffnest, so wie vorhin, als du mich zum ersten Mal gesehen hast. Ich greife nach dem Rufknopf für die Schwester, denke, dass dir vielleicht etwas wehtut. Aber dann hörst du auf, dich zu bewegen,

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