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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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wollte er wissen, denn es war selten, dass wir alle an einem Platz versammelt waren, der nicht der Esstisch war.
    Meine Mutter stimmte „Happy Birthday“ an, und wir alle fielen mit ein. Am Ende des Lieds traten wir einen Schritt zur Seite und gaben den Blick auf den winzigen Fernseher frei, der auf einem alten Bücherregal stand.
    „Was ist das?“, fragte mein Vater ungläubig. „Was habt ihr getan?“
    Wir alle grinsten ihn an, und meine kleine Schwester Lottie, die sieben war, quäkte: „Mach ihn an, Daddy, mach ihn an!“
    Mein Vater trat vor und drehte den Knopf auf „An“, und nach einem kurzen Augenblick füllte das Schwarz-Weiß-Bild einer Varieté-Show den Schirm. Wir alle lachten vor Freude und versammelten uns vor dem Bildschirm, um zuzuschauen. Mein Vater fummelte am Lautstärkeregler, bis wir alle zufrieden waren, und dann schauten wir alle wie gebannt fern. Später nahm mein Vater mich zur Seite und dankte mir. Er legte mir eine Hand in den Nacken und schaute mir in die Augen; wir hatten inzwischen beinah die gleiche Größe. „Mein Junge“, flüsterte er. Das waren die wohl süßesten Worte, die ich je gehört habe – bis zu dem Moment, an dem Petra das erste Mal „Da Da“ sagte.
    Petra nach der langen und beschwerlichen Geburt das erste Mal in den Armen zu halten war für mich ein Wunder. Ich hatte jahrelang versucht, meine Wurzeln als Farmersjunge abzustreifen, mir auch noch den kleinsten Hauch von Akzent abzugewöhnen, mich als kultivierten, intelligenten Mann darzustellen, nicht als Sohn eines ungebildeten Schweinefarmers. Ich war verblüfft über die Perfektion, die ich in meinen Armen hielt, die langen, dunklen Wimpern, den Wust an dunklen Haaren auf ihrem eiförmigen Kopf, die weiche Hautfalte unter ihrem Nacken, die eifrigen Saugbewegungen, die sie mit ihren winzigen Lippen vollführte. Für mich war das alles unglaublich.
    Oben auf der Lok verberge ich mein Gesicht in meinen schmutzigen Händen. Ich kann sie nicht finden, und ich kann die Schande nicht ertragen, ohne ihre Tochter zu Fielda zurückzukehren. Wieder mal bin ich beschämt. Ich habe mich erneut meinen Pflichten entzogen, dieses Mal als Vater, und ich stelle mir wieder einmal die Enttäuschung auf dem Gesicht meines Vaters vor.

Deputy Sheriff Louis
    Auf meinem Weg zu den Gregorys rufe ich unseren Sheriff Harold Motts an. Ich muss ihn auf den neuesten Stand bringen. Ihn wissen lassen, dass ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache habe, dass ich nicht denke, es handele sich lediglich um zwei Mädchen, die sich beim Spielen verlaufen haben.
    „Welche Beweise hast du?“, fragt Motts mich.
    Ich muss zugeben, keine zu haben. Nichts Greifbares zumindest. Es gibt keine Anzeichen eines Einbruchs, keine Kampfspuren in den Zimmern der Mädchen. Nur ein schlechtes Gefühl. Aber Motts vertraut mir, wir kennen einander schon sehr lange.
    „Du denkst an FPF?“, fragt er mich.
    FPF steht im Polizeijargon für Foul Play Feared und bedeutet, dass ein Gewaltverbrechen nicht ausgeschlossen werden kann. Allein durch das Aussprechen dieser drei Buchstaben kann eine ganze Kette an Ereignissen in Gang gesetzt werden. Die State Police und das DCI, die Kriminalpolizei, werden tätig, die Presse interessiert sich, es wird kompliziert. Ich wäge meine Worte sorgfältig ab, bevor ich sie ausspreche.
    „Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich würde mich wesentlich wohler fühlen, wenn du einen der Jungs von der State Police dazurufst, nur um sich die Sache mal anzugucken. Außerdem übernehmen sie doch die Rechnung, sobald wir sie dazugeholt haben, oder? Wir können uns eine umfangreiche Suchaktion weder leisten noch bezahlen.“
    „Ich rufe das DCI sofort an“, sagt Motts zu meiner großen Erleichterung. „Brauchen wir auch die Spurensicherung?“
    „Im Moment noch nicht. Hoffentlich nie, aber vielleicht wird es später doch notwendig werden. Ich bin auf dem Weg zurück zu den Gregorys. Ruf also schon mal die Reservisten.“ Ich bin froh, dass Motts derjenige ist, der unsere außer Dienst befindlichen Officer und Reservisten wecken, sie von ihren Familien loseisen und in den Dienst schicken muss. Willow Creek hat ungefähr achttausend Einwohner, wobei diese Zahl jeden Herbst um zwölftausend steigt, wenn das College beginnt. Unser Revier ist klein, wir haben insgesamt zehn Officer, drei pro Schicht. Nicht annähernd genug, wenn man zwei vermisste Siebenjährige suchen will. Wir brauchen die Reservisten, um die Gegend zu durchkämmen und die

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