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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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Leute zu befragen.
    „Louis“, sagt Motts, „glaubst du, es besteht irgendeine Ähnlichkeit mit dem McIntire-Fall?“
    „Der Gedanke ist mir gekommen“, gebe ich zu. Wir haben bis heute nicht die geringste Spur von der vor einem Jahr entführten und getöteten zehn Jahre alten Jenna McIntire. Das kleine Mädchen verfolgt mich immer noch jede Nacht im Schlaf. Sosehr ich den Gedanken auch beiseiteschieben will, Calli und Petra könnte etwas Ähnliches zugestoßen sein, es gelingt mir nicht. Es ist mein Job, so zu denken.

Petra
    Ich kann nicht mit ihnen mithalten, sie sind zu schnell. Ich weiß, dass er mich gesehen hat, denn er hat sich zu mir umgedreht und mich angelächelt. Warum warten sie nicht auf mich? Ich rufe sie, aber sie halten nicht an. Ich weiß, dass sie irgendwo vor mir sind, aber ich bin mir nicht sicher, wo genau. Ich höre eine Stimme in der Ferne. Ich komme näher.

Calli
    Die Temperatur stieg beständig, und das Zirpen der Heuschrecken erfüllte ihre Ohren. Griff war ungewohnt still geworden, und Calli wusste, dass er über etwas nachgrübelte. In Calli machte sich Unbehagen breit, und sie versuchte, es niederzudrücken. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit darauf, so viele Heuschreckenpanzer wie möglich zu finden. Die zerbrechlichen Hüllen hingen an Baumstämmen und von Ästen, und sie hatte bereits zwölf von ihnen entdeckt. Ben hatte sie früher in einem alten Schmuckkästchen gesammelt, das ihrer Großmutter gehört hatte. Er konnte Stunden damit zubringen, die graue, haarige Borke der Schuppenrinden-Hickory nach den leeren Chininhäuten abzusuchen, sie sorgfältig vom Holz abzupflücken und sie in die mit rotem Samt ausgekleidete Schachtel zu legen. Er würde Calli rufen, damit sie zusehen konnte, wie eine grimmig aussehende Heuschrecke mit Teufelsaugen sich langsam aus ihrer Haut schälte. Fasziniert würden sie die langsame Reise beobachten, die feinen Risse im Panzer, das vorsichtige Hervorkommen des weißen Insekts mit seinen noch feuchten Flügeln, das geduldige Warten darauf, dass sein neues Außenskelett verhärtete. Ben würde die zurückgelassene Schale auf ihre ausgestreckte Handfläche setzen, und die winzigen Beine, nur noch ein Hauch ihres vorherigen Lebens, würden ihre Haut kitzeln.
    „Sogar seine Frau weiß, dass da was vor sich geht“, fluchte Griff.
    Callis Herz flimmerte. Dreizehn, vierzehn … sie zählte.
    „Sogar seine Frau weiß, dass er zu sehr an ihr interessiert ist. Toni läuft immer zu ihm, wenn sie in Schwierigkeiten steckt.“ Griffs Stimme war unsicher. „Kommt sie zu mir? Nein, sie rennt zu Louis! Und ich spiele all die Jahre den Vater für dich.“ Griffs Finger gruben sich in ihre Schulter, sein Gesicht war rot vor Hitze und tropfnass vor Schweiß. Winzige Mücken umkreisten seinen Kopf. Einige blieben an seiner feuchten Haut kleben wie kleine Schmutzflecken. „Weißt du, wie ich dastehe, wenn jeder, jeder über deine Mutter Bescheid weiß?“ Unerwartet stieß er Calli grob zu Boden, und die Luft wurde ihr mit einem Zischen hart aus den Lungen gepresst, als sie aufschlug.
    „Ah, so bekommt man also einen Ton aus dir raus, ja? Das brauchst du also, um zu reden?“
    Calli krabbelte rückwärts, während Griff über ihr aufragte. Sie wandte den Kopf ab, und stumme Tränen rannen ihr über die Wangen. Er war ihr Vater; sie hatte seine kleinen Ohren, die gleichen Sommersprossen auf der Nase. An Weihnachten holten sie immer das große, grüne Lederalbum mit den Fotos hervor, die Callis und Bens wichtigste Stationen im Leben zeigten. Das Foto von Calli mit sechs Monaten, wie sie auf dem Schoß ihres Vaters sitzt, war beinah identisch mit dem von Griff auf dem Schoß seiner Mutter, das gleiche, zahnlose Lächeln, dieselben Grübchen in den Wangen blitzten ihnen aus beiden Bildern entgegen.
    Calli öffnete den Mund, wollte das Wort herauszwingen. „Daddy“, wollte sie weinen. Sie wollte aufstehen und zu ihm gehen, ihre Arme so weit wie nur irgend möglich um ihn schlingen, sich dann gegen die weiche Baumwolle seines T-Shirts schmiegen. Natürlich war er ihr Daddy; die Art, wie sie beide mit den Händen in den Hüften dastanden, wie sie beide erst das gesamte Gemüse essen mussten, bevor sie sich dem Rest des Hauptgangs widmeten und sich die Milch bis zum Schluss aufbewahrten. Ihre Lippen zuckten, um das Wort zu sagen. „Daddy“, sie wünschte sich von ganzem Herzen, es auszusprechen. Aber nichts kam heraus, nur ein sanfter Hauch ihres Atems.
    Griff

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