Das Flüstern der Toten (German Edition)

Problemen konfrontiert, darunter mit dem Umstand, dass Reyes Alexander Farrow gar nicht existiert .
    Reyes Alexander Farrow. Ich hielt einen Moment inne, um tief durchzuatmen und meinen Puls zu beruhigen. Selbst Reyes’ Name verursachte mir Herzklopfen. Und er existierte nicht? Teufel noch mal, das hätte ich denen vorher sagen können.
    » Farrow besitzt keine Geburtsurkunde«, stellte die Anklage nach zweiwöchiger Verhandlung fest. »Er hat keine Krankengeschichte, keine Sozialversicherungsnummer, und abgesehen von drei Monaten Yucca High war er auch auf keiner Schule eingeschrieben. Für die Behörden ist dieser Mann ein Gespenst .«
    Ein Gespenst. Das Schicksal hat durchaus Sinn für Ironie, wie Morpheus sagen würde.
    Farrows Vater, Earl Walker, wurde in einer Schlucht fünf Meilen vor Albuquerque von Anhaltern in seinem Autowrack tot aufgefunden. Obwohl seine Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war, ergab die Autopsie, dass er an den Folgen eines Schlages mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf gestorben war. Mehrere Zeugen haben beobachtet, wie Farrow an dem Tag, bevor sein Vater von seiner Verlobten als vermisst gemeldet wurde, mit ihm stritt .
    » Uns waren die Hände gebunden«, gab Stan Eichmann, Farrows Hauptverteidiger, nach der Urteilsverkündung an. »Dieser Fall ist komplexer, als man auf den ersten Blick erkennt. Wir werden wohl nie erfahren, was dabei noch hätte herauskommen können .«
    Eichmanns Äußerung war nur eines von Dutzend Rätseln rund um den Fall. So hatte auch Walker keine Sozialversicherungsnummer, und eine Steuererklärung hatte er auch nie abgegeben .
    » Es gab nichts, was ihn als gesetzestreuen Bürger ausgewiesen hätte«, so Eichmann. »Anscheinend lebte er unter verschiedenen Decknamen. Wir haben Wochen gebraucht, um hinter seinen vermeintlich richtigen Namen zu kommen .«
    » Das ist nicht so ungewöhnlich, wie man denken könnte «, erklärte der Anklagevertreter. »Allerdings entscheiden sich Kriminelle erst im Erwachsenenalter für diese Laufbahn, während Farrow schon vorher nicht existent war. Nach Aktenlage wurde er nie geboren, und ein DNS-Test hat ergeben, dass Walker nicht sein biologischer Vater war. Nach allem, was wir über ihn wissen, würde ich sagen, dass Reyes Farrow höchstwahrscheinlich als Kind verschleppt wurde .«
    Mir stockte der Atem. Konnte es wirklich so sein?
    Rasch überflog ich den Rest des Artikels.
    Farrow selbst hat nicht zu seinen Gunsten ausgesagt, womit er es den Geschworenen schwer machte, von den Indizien abzusehen, obwohl es der Verteidigung gelang, mehrere für die Strategien der Anklage relevante Schlüsseltheorien zu erschüttern .
    Weiter ging es in dem Zeitungsartikel um Walkers Verlobte, Sarah Hadley. Sie gab an, dass Reyes Walker bei mehreren Gelegenheiten bedroht hatte – was stimmte – und dass sie beide um ihr Leben fürchteten. Ein weiterer Zeuge indes, ein Arbeitskollege von Ms Hadley, widersprach ihrer Aussage und sagte unter Eid aus, dass Walkers Verlobte insgeheim in Farrow verliebt gewesen sei und Walker jederzeit verlassen hätte, um eine Beziehung mit ihm anzuknüpfen. Weiter gab der Zeuge an, dass Ms Hadley vor niemand anderem Angst gehabt habe als vor Walker selbst.
    » In diesem Fall geht es um ein gebrochenes Herz und eine gebrochene Biografie «, wandte Eichmann sich an die Geschworenen, bevor diese sich zur Beratung zurückzogen . » Schon Walkers Vorstrafenregister wirft erhebliche Zweifel an der Annahme auf, dass ausgerechnet sein einziges Kind ihn ermordet hat, welches Motiv es auch hätte haben können .«
    Sein einziges Kind? Aber Reyes hatte doch eine Schwester.
    » Die Umstände seines Todes sind ungefähr so durchsichtig wie ich selbst «, fuhr Eichmann fort .
    Farrow, der vor seiner Verhaftung mit einer gestohlenen Sozialversicherungsnummer an der Abendschule – Ironie der Geschichte – Rechtswissenschaft studiert hatte, nahm das Urteil ohne erkennbare Regung und mit leicht gesenktem Kopf entgegen .
    Niedergeschlagen stellte ich mir vor, wie Reyes in einem Gerichtssaal stand, um von seinesgleichen verurteilt und für schuldig oder unschuldig befunden zu werden. Ich fragte mich, wie er sich gefühlt, wie er die Entscheidung aufgenommen hatte.
    »Reyes Farrow wird jede Minute rätselhafter«, meinte ich. Walkers Verlobte hatte, ich konnte es nicht anders ausdrücken, einen Haufen Scheiße geredet. Missbrauchte Kinder greifen ihre Peiniger nur sehr selten an, noch seltener fügen sie ihnen