Das Flüstern der Toten (German Edition)
warum überhaupt jemand so ein Ding stehlen sollte, war mir schleierhaft. Die Farbe war rot. Die Farbe der Kaffeekanne, nicht der Schaltanlage. Ich hatte keine Ahnung, welche Farbe Schaltanlagen hatten, da ich den Dieb dingfest machte, bevor ich in diese Richtung ermitteln konnte.
Ich gab Milch in ein Glas und stürzte sie hinunter, damit ich vier Schmerztabletten auf einmal nehmen konnte, ohne dass sie mir die Magenwände zerfetzten. Das rezeptpflichtige Schmerzmittel, das mir der Arzt in der Notaufnahme vorgeschlagen hatte, wollte ich nicht nehmen. Auf Rezepte stand ich generell nicht so. Andererseits infiltrierte der Schmerz bereits meine Muskeln, machte sie steif, bis ich fürchtete, sie könnten bei der nächsten Bewegung aufreißen. Der Sturz mochte keine bleibenden Schäden verursacht haben, doch die vorübergehenden setzten mir auch genug zu. Ich bekam kaum Luft.
Was immerhin besser war, als überhaupt keine Luft zu bekommen.
Während ich Mark Weir im Knast besucht, Rocket in der Anstalt herumgehetzt hatte, in die Anwaltskanzlei eingebrochen und in dem Lagerhaus durch das Oberlicht gerasselt war, hätte ich meine Hände eigentlich lieber mit einer Computertastatur beschäftigt, um aus der Gefängnisdatenbank mehr über Reyes in Erfahrung zu bringen. Als ich auf den Stuhl vor meinem Computer glitt, kam Cookie bereits mit Notizen und Ausdrucken unter dem Arm anmarschiert. Wie ich sie kannte, hatte sie Reyes’ Leben bis zur Schuhgröße und Blutgruppe durchleuchtet. Ich loggte mich auf der Website der Strafvollzugsbehörde von New Mexico ein, während sie uns Kaffee eingoss. Dank Hochgeschwindigkeitskabel leuchtete zehn Sekunden später auf dem Monitor Reyes’ Verbrecherfoto auf.
»Großer Gott«, sagte Cookie hinter mir, die auf Reyes Anblick scheinbar genauso reagierte wie ich.
Sie stellte mir eine Tasse hin.
»Danke«, sagte ich, »und es tut mir leid, dass ich dich mitten in der Nacht aus dem Bett holen musste.«
Sie zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und legte ihre Hand auf meine. »Glaubst du denn wirklich, es macht mir das Geringste aus, dass du mich angerufen hast.«
War das eine Fangfrage? »Äh, schon, ja. Wer wäre darüber nicht ungehalten?«
»Ich«, sagte sie betroffen, als hätte ich sie mit der bloßen Vermutung tief gekränkt. »Ich wäre stinksauer gewesen, wenn du mich nicht angerufen hättest. Ich weiß, dass du etwas Besonderes bist und dass du eine außergewöhnliche Gabe besitzt, die ich wohl nie ganz verstehen werde, aber du bist trotz allem ein Mensch und außerdem meine beste Freundin.« Ihr Gesicht verwandelte sich in eine Landkarte aus Sorgenfalten. »Ich war nicht sauer, weil du mich angerufen hast. Ich war sauer, weil du dich offenbar für unzerstörbar hältst. Aber das bist du nicht.« Sie hielt inne, um mich genau ins Auge zu fassen, damit ich sie auch ja richtig verstand. Wie süß. »Und wegen dieser trügerischen Selbstüberschätzung bringst du dich immer wieder in … bizarre Schwierigkeiten.«
»Bizarr?«, wiederholte ich und tat beleidigt.
»Ich sage nur: Kläranlagendebakel .«
»Dafür konnte ich aber echt nichts«, widersprach ich und sträubte mich gegen die bloße Erinnerung. Von wegen.
Sie schürzte die Lippen und wartete ab, ob ich von allein zur Vernunft käme.
»Schön, ich konnte was dafür.« Sie kannte mich zu gut. »Aber nur ein bisschen. Und diese Ratten hatten es verdient. Also, was hast du rausgekriegt?«, wollte ich wissen und richtete den Blick auf Reyes’ Bild.
Cookie blätterte die Ausdrucke durch und zog einen aus dem Stapel. »Bist du bereit?«
»Solange es nicht um Nacktfotos von alten Damen geht, bin ich dabei.« Ich starrte auf Reyes’ feurige Augen.
Dann gab sie mir den Ausdruck. »Mord.«
»Nein«, hauchte ich, als hätte es mir den Atem verschlagen. Ein zehn Jahre alter Zeitungsausschnitt. Nein, nein, nein, nein, nein. Alles, nur nicht Mord. Oder Vergewaltigung. Oder Kindesentführung. Oder bewaffneter Raubüberfall. Oder Entblößung in der Öffentlichkeit. Weil all das einfach zu gruselig war. Widerstrebend überflog ich den Artikel, wie bei einem Autounfall, der einen unweigerlich langsamer fahren und gaffen lässt.
MANN AUS ALBUQUERQUE SCHULDIG GESPROCHEN.
Kurz und knapp.
Ein Mann, dessen Vergangenheit noch rätselhafter ist als der Tod seines Vaters, wurde am Montag nach dreitägiger Beratung von den Geschworenen für schuldig befunden. Die Anklage war während der Verhandlung mit einigen ungewöhnlichen
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