Das Flüstern der Toten (German Edition)
Jahren befreien konnte.
Seltsamerweise holte mich ausgerechnet Reyes aus dem tiefen Tal. Seine Lage zeigte mir, was ich hatte, nämlich vor allem einen Vater, der mich nicht aus purer Freude daran vermöbelte. Mein Vater liebte mich, eine Wohltat, die Reyes völlig abging. Sein Leben war hundertmal schlimmer als meines, aber er tat sich nicht im Mindesten selber leid. Jedenfalls nicht, soweit ich es wusste. Also delektierte ich mich auch nicht länger an meinem Selbstmitleid.
Vertrauen stand allerdings auf einem anderen Blatt. Den Lebenden zu vertrauen war noch nie meine Stärke gewesen. Aber hier ging es um Cookie. Eine bessere Freundin als sie hatte ich nie gehabt. Sie hatte alles, was ich ihr offenbart hatte, ohne Umschweife hingenommen, ohne jemals an mir zu zweifeln, mich verächtlich zu machen oder an ihren finanziellen Vorteil zu denken.
»Du glaubst also, ich könnte, was du mir sagen würdest, nicht verkraften?«
»Nein. Wenn einer es verkraften kann, dann du. Ich bin mir bloß nicht sicher, ob ich dir das zumuten will.« Ich legte ihr eine Hand auf den Arm und beugte mich vor. »Es ist nicht immer besser, alles zu wissen.«
Nach einiger Zeit schob sie mit einem dünnen Lächeln die Akten zusammen. »Deine Fähigkeiten sind ein Teil von dir, Charley, ein Teil deines Wesens. Ich glaube nicht, dass du mir etwas sagen könntest, das meine Meinung über dich ändern würde.«
»Um deine Meinung über mich mache ich mir auch keine Sorgen.«
»Es ist schon spät«, sagte sie, während sie Papiere in einen Aktenordner sortierte. »Du musst jetzt schlafen gehen.«
Hatte ich ihre Gefühle verletzt? Dachte sie, ich wollte sie außen vor lassen? Alle Seiten meines Lebens mit einer besten Freundin zu teilen, der ich mich anvertrauen konnte, wäre so etwas wie der Topf am Ende des Regenbogens mit grünem Chilieintopf drin. Sollte ich es wagen? Sollte ich diese Freundschaft aufs Spiel setzen?
Es war spät, aber so wunderbar es sich anhörte, sich in den Schlaf sinken zu lassen, so sehr jagte die Vorstellung, Cookie alles zu sagen – sie an der Wahrheit, der reinen Wahrheit und nichts als der Wahrheit teilhaben zu lassen – , Adrenalin durch meine Blutbahn. Es wäre schön, eine Vertraute zu haben, Mitwisserin, eine Waffen- und Haargelgefährtin. Doch es war zwei Uhr morgens, und ich war völlig ausgepumpt, waidwund, nahezu komatös. Darum betete ich, dass keine von uns den Mund zu voll nahm. Mir war das mal mit Kaugummi passiert. Angenehm war so was nicht.
Vielleicht sollte ich es einfach drauf ankommen lassen. Nur dieses eine Mal. Vielleicht würde sie ja unbeschadet davonkommen, ihre geistige Gesundheit behalten. Was allerdings auch nicht viel hieß. Trotzdem …
Ich strich mit dem Finger über den Rand meines Kaffeebechers; ich konnte ihr unmöglich in die Augen schauen. Immerhin war ich drauf und dran, ihr Leben für immer auf den Kopf zu stellen. Und das nicht unbedingt auf die gute Art. »Er ist wie Rauch«, sagte ich und spürte sie weiter an meiner Seite. »Und er verfügt über große Macht. Ich kann sie spüren, sie geht in Wellen von ihm aus. In seiner Nähe werde ich schwach, als würde er einen Teil von mir absorbieren.«
Sie saß einige Sekunden verblüfft und reglos da, dann legte sie die Akten auf den Schreibtisch zurück. Sie hatte eine Grenze überquert, war über den Abgrund in eine Welt gesprungen, von deren Existenz nur sehr wenige Menschen wussten. Cookie Kowalski würde von diesem Augenblick an nicht mehr dieselbe sein.
»Und du hast ihn heute gesehen?«, wollte sie wissen.
»Ja, in dem Lagerhaus, aber auch schon heute früh, als Reyes im Büro auftauchte.«
»Da war dieses Wesen auch da?«
»Nein, ich fange allmählich an zu glauben, dass er und Reyes dieselbe Art Wesen sind. Bloß dass Reyes auch körperlich vorhanden, ein Mensch ist. Aber in letzter Zeit sehe ich ständig diesen Schemen und habe im Schlaf unvorstellbaren Sex, und dann taucht er plötzlich in meiner Dusche auf … «
»In deiner Dusche?«
»… und am Tag meiner Geburt hat er mich Dutch genannt, genau wie Reyes damals, nur dass Reyes, als ich geboren wurde, noch viel zu klein war, klar. Also woher wusste er davon? Woher konnte der Große Böse wissen, wie Reyes mich fünfzehn Jahre später nennen würde?«
Der Kaffeebecher entglitt meinen Fingern, und Cookie stellte ihn auf dem Schreibtisch ab. »Genug Koffein.«
»Entschuldigung«, sagte ich und versuchte, mir ein tumbes Grinsen zu verkneifen.
»Also, erst
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