Das Flüstern der Toten (German Edition)
in Vorbereitung auf einen Luftangriff die Stuhllehnen umklammerte, kehrten meine Zweifel jedoch sofort zurück. Was machte ich hier eigentlich? Mal abgesehen davon, dass ich sie zu Tode erschreckte?
»Nein, ich kann nicht«, sagte ich, als ich noch mal darüber nachdachte, ob ich ihr alles sagen sollte, bloß um ihr von dem Großen Bösen im Lagerhaus zu berichten und ihre Meinung darüber zu erfahren. Das konnte ich Cookie nicht antun. »Tut mir leid. Ich hätte gar nicht erst davon anfangen dürfen.«
Sie löste die Hände von den Stuhllehnen und sah mich an. Ihre Augen funkelten entschlossen. »Charley, du kannst mir alles sagen. Ich verspreche auch, dir nicht wieder böse zu sein.« Als meine Miene nichts als Zweifel ausdrückte, stellte sie klar: »Na ja, ich verspreche, dass ich versuche , nicht wieder böse auf dich zu sein.«
»Du kannst ja nichts dafür«, sagte ich und senkte den Kopf. »Es gibt Dinge, die besser ungesagt bleiben. Ich kann nicht glauben, was ich dir beinahe angetan hätte. Entschuldige, bitte.«
Dass ich zu denen, die mir nahestehen, immer ehrlich bin, hat unter anderem Auswirkungen auf deren Geisteszustand. Ich wusste seit Langem, wie sehr es schmerzte, wenn man mir nicht glaubte, aber wer mir glaubte, war danach nicht mehr derselbe und sah die Welt mit anderen Augen. Das konnte verheerende Folgen haben. Daher überlegte ich mir sehr gut, wen ich schließlich einweihte. Und von dem Großen Bösen hatte ich bisher nur einem Menschen etwas gesagt, eine Entscheidung, die ich seither zutiefst bereute.
Cookie rutschte auf ihrem Stuhl zurück, griff nach ihrer Kaffeetasse und blickte hinein. »Weißt du noch, als du mir erzählt hast, was du bist?«
Ich dachte kurz zurück. »Kaum. Wie du dich vielleicht erinnerst, war ich bei meiner dritten Margarita.«
»Weißt du noch, was du damals gesagt hast?«
»Äh … dritte Margarita?«
»Du hast gesagt, ich zitiere: Cookie, ich bin die Schnitterin.«
»Und das hast du mir geglaubt?«, fragte ich und wölbte ungläubig die Augenbrauen.
»Ja«, antwortete sie, plötzlich wieder ganz lebhaft. »Ohne jeden Zweifel. Ich hatte damals schon zu viel mitgekriegt, um dir nicht zu glauben. Also, was, um alles in der Welt, könntest du mir verraten, das schlimmer wäre?«
»Tja, da wärst du womöglich platt.«
Sie zog die Stirn kraus. »Echt, so schlimm?«
»Es geht nicht darum, dass es schlimm wäre«, erläuterte ich, um ihr vielleicht ein bisschen was von ihrer Unschuld und nach Möglichkeit ihre geistige Gesundheit zu bewahren. »Es ist bloß nicht so leicht zu glauben wie das andere.«
»Oh, verstehe. Weil sich heutzutage ja an jeder Straßenecke ein Schnitter herumtreibt.«
Da war was dran. Doch meine Gabe hatte mich schon häufiger in Schwierigkeiten gebracht und mir Menschen entfremdet, bei denen ich geglaubt hatte, ich könnte mich auf sie verlassen. Das genügte, damit ich zögerte, unabhängig davon, wie sehr ich mich um Cookie sorgte. Worum es mir in Wahrheit ging? Tja, manchmal versetzte mich meine Selbstsucht in Erstaunen.
»Damals auf der Highschool«, sagte ich, indem ich bei der guten, alten, Masche Zuflucht nahm, sich angeblich nur um das Wohl anderer zu sorgen, »habe ich meiner besten Freundin zu viel verraten. Unsere Freundschaft ging deshalb den Bach runter. Ich will einfach nicht, dass mit uns dasselbe passiert.«
Das hieß nicht, dass ich Jessica die ganze Schuld aufbürden wollte. Die Erfahrung und meine irre Fähigkeit, Menschen zu durchschauen, hätte mich davon abhalten müssen, meiner besten Freundin mehr zu offenbaren, als ihr guttat. Ihr plötzlicher Hass auf alles, was mit Charley Davidson zu tun hatte, traf mich damals hart. Ich kapierte nicht, woher ihre Feindseligkeit rührte. In einer Minute beste Freundinnen, in der nächsten Todfeinde. Ich war total geschockt. Auch heute dachte ich noch oft daran, auch wenn mir Jahre danach aufgegangen war, dass sie einfach Angst gehabt hatte. Vor meiner Gabe. Vor dem, was draußen lauert. Vor der Bedeutung meiner Fähigkeiten im großen Weltenplan. Aber damals war ich fix und fertig. Wieder mal war mir jemand, der mir viel bedeutete, in den Rücken gefallen. Jemand, von dem ich annahm, dass ich ihm ebenfalls wichtig war.
Jessicas Feindseligkeit und die Gleichgültigkeit meiner Stiefmutter stürzten mich in eine tiefe Depression. Die verbarg ich zwar unter Sarkasmus und Dreistigkeit, trotzdem trat der Zwischenfall eine autoaggressive Lawine los, aus der ich mich erst nach
Weitere Kostenlose Bücher