Das Flüstern der Toten (German Edition)
mal alles auf Anfang.« Sie tätschelte begütigend meinen Arm. »Es sei denn, du fängst lieber mit der Szene unter der Dusche an.«
»Es gibt so viel, wovon ich dir nichts gesagt habe, Cookie. Das musst du alles erst mal verkraften.«
»Das bin ich von dir doch gewohnt, Charley.«
Ich kicherte, schnappte mir meinen Becher und stürzte den Rest Kaffee hinunter.
»Wann ist dir dieses Wesen zum ersten Mal begegnet?«
»Am Tag meiner Geburt.« Hörte sie denn nicht zu? »An dem Tag habe ich den Großen Bösen zum ersten Mal gesehen«, ergänzte ich und strichelte effektvoll Anführungszeichen in die Luft.
»Den Großen Bösen?«
»Den Rauch. Das Wesen Schrägstrich Ungeheuer, das zu den unmöglichsten Zeiten auftaucht. Vor allem, wenn ich in Lebensgefahr schwebe. Wie wär’s mit Popcorn?«
Sie rutschte an die Stuhlkante. »Und der erschien dir am Tag deiner Geburt?«
»Jau. Ich nenne ihn den Großen Bösen, weil mir Riesenmonster-das-mich-zu-Tode-erschreckt zu lang ist.«
Cookie nickte, gespannt wie ein Flitzebogen, wo meine Geschichte hinführen würde. Ihr war klar, dass ich etwas mehr zu bieten hatte als das übliche Garn über das Gespenst auf dem Dachboden irgendeiner Tante. Was ich zu sagen hatte, eignete sich nicht für Lagerfeuer oder Pyjamapartys. Was erklären mochte, warum man mich als Jugendliche so selten zu so was eingeladen hatte.
»Jedenfalls erschien er am Tag meiner Geburt.«
Ihre Kaffeetasse verharrte auf halbem Weg zwischen Tisch und Mund, während sie sich alle Mühe gab, nicht zu sabbern. Mir wurde erst in diesem Augenblick klar, wie scharf sie darauf gewesen war, mehr zu erfahren. Wie sehr mein Schweigen ihr zugesetzt hatte.
Dann fragte sie mit zerfurchter Stirn: »Aber woher weißt du das? Hat dir das jemand gesagt?«
»Was gesagt?« Mein Kaffeebecher gefiel mir. Das Motiv darauf zeigte eine Tigerlilie, meine Lieblingsblume, die ich mir jetzt genau ansah, um nicht Reyes anzustarren.
»Dass an deinem Geburtstag dieses große, böse Ungeheuer aufgetaucht ist.«
»Äh, wie?« Was redete sie da? Oder ließ ich mich gerade unbewusst in die Bewusstlosigkeit gleiten?
»Woher weißt du, dass er am Tag deiner Geburt da war?«
Oh, alles klar, darüber wusste sie ja auch noch nichts. »Ich erinnere mich seit dem ersten Tag an so ziemlich alles.«
»Seit dem ersten Tag?«
Ich nickte, wobei mir zum ersten Mal auffiel, dass ein Blütenblatt der Tigerlilie beiläufig den Rand des Bechers berührte.
»Seit welchem ersten Tag? Dem ersten Schultag? Dem Beginn des Golfkriegs? Deiner ersten Periode?« Plötzlich kapierte sie und holte tief und hörbar Luft. »Das also! Das alles passierte, als du zum ersten Mal deine Tage hattest. Es waren die Hormone, stimmt’s? Da ist dir das alles eingefallen?«
Ich grinste. Sie war lustig. »Seit meinem ersten Lebenstag. Dem ersten Tag meiner Existenz. Meines Daseins auf Erden.«
»Da komme ich nicht mit.«
»Seit dem Tag meiner Geburt«, sagte ich, indem ich die Augen verdrehte. Cookie war normalerweise nicht so schwer von Begriff.
Nun saß sie betäubt und stumm da. Es war verrückt.
»Ich weiß, das haut einen um.« Nachdem ich mit dem Finger das hellste orangefarbene Blütenblatt nachgezeichnet hatte, fügte ich hinzu: »Es kommt wohl nicht so häufig vor, dass Menschen sich an den Tag ihrer Geburt erinnern.« Die Blütenblätter öffneten sich zu einer Farbexplosion, in der Mitte, an der empfindlichsten Stelle, waren sie besonders dunkel.
»Nicht so häufig?«, wiederholte sie in ironischem Ton.
»Tja, das ist schon komisch.« Ich fuhr das nächste Blütenblatt entlang. »Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Was nicht heißt, dass ich wüsste, was gestern war.« In dem Moment gingen mir die Blütenblätter aus, mein Blick wanderte aufwärts und fiel unweigerlich auf Reyes’ Gesicht. Der Schmerz und die Wut in seiner Miene waren beinahe greifbar. Und seine Augenfarbe, dieses volle, tiefe Braun, wurde zur Mitte hin dunkler.
»Großer Gott, Charley, du erinnerst dich an deine Geburt?«
»Ich erinnere mich an ihn .«
»An den großen, bösen Kerl?«
»An den Großen Bösen. Und auch an andere Sachen, ja, zum Beispiel daran, wie der Doktor die Nabelschnur durchtrennt hat und wie die Krankenschwestern mich sauber gemacht haben.«
Cookie lehnte sich staunend zurück.
»Er nannte meinen Namen. Oder was ich dafür gehalten habe.«
Sie holte tief Luft, als ihr klar wurde, was das hieß. »Er nannte dich Dutch.«
»Ja. Aber wieso?
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