Das Flüstern der Toten (German Edition)
Woher konnte er das wissen?«
»Schatz, ich habe das mit deinem Geburtstag noch nicht verdaut.«
»Ja, richtig, tut mir leid. Aber beeil dich, bitte, damit wir weiterkommen. Ich habe massig viele Fragen.«
Sie machte ein misstrauisches Gesicht. »Gibt es noch andere pikante Einzelheiten, die du mir mitteilen musst?«
Ich antwortete achselzuckend: »Eigentlich nicht. Es sei denn, du zählst mit, dass ich seit dem Tag meiner Geburt jede Sprache verstehe, die jemals gesprochen wurde. Das ist womöglich eine Fußnote wert.«
Ich war müde und konnte mir deshalb nicht ganz sicher sein, aber ich hatte das Gefühl, dass Cookie einer Ohnmacht nahe war.
10
Keine Angst vor der Schnitterin, nur allergrößte Vorsicht .
– Charlotte Jean Davidson
»Ich schaue also hoch, und da ist er.«
Cookie hatte, während sie meiner Erzählung lauschte, ein Stück Popcorn zwischen den Lippen und machte vor Staunen große Augen. Oder sie hatte einfach eine Scheißangst. Das ließ sich in dem Moment schwer sagen. »Der Große Böse«, sagte sie.
»Genau, aber du kannst ihn auch den Bösen nennen, das ist kürzer. Wie auch immer, er steht da und guckt zu, und ich bin nackt und voller Blut – obwohl das damals noch egal war. Ich weiß bloß noch, dass ich wie hypnotisiert von ihm war. Und er schien die ganze Zeit hin und her zu wabern.«
»Wie Rauch.«
»Wie Rauch«, bestätigte ich. Dabei nahm ich ihr das Popcorn aus der Hand und steckte es mir in den Mund. »Wer pennt, verliert, chica .«
»Kannst du dich an irgendwas davor erinnern?«, fragte sie und griff nach neuem Popcorn, das wiederum auf halbem Weg zu ihrem Mund hängen blieb. Ich gab mir Mühe, nicht zu lachen, um den Bann nicht zu brechen.
»An viel nicht. Ich meine, ich erinnere mich nicht an meine Geburt oder so – den Göttern sei Dank, das wäre ja wohl echt krass. Bloß an alles danach. Allerdings nur verschwommen. Nur an ihn erinnere ich mich genau. Und an meine Mutter.«
»Warte mal«, rief Cookie mit erhobenem Zeigefinger. »An deine Mutter? Aber deine Mutter starb doch bei deiner Geburt. Du kannst dich an sie erinnern?«
Auf meinem Gesicht breitete sich langsam ein Lächeln aus. »Sie war wunderschön, Cookie. Und sie war … na ja, mein erster Auftrag.«
»Du meinst – «
»Ja. Sie ging durch mich hinüber. Sie war Licht, Wärme, bedingungslose Liebe. Ich habe das damals nicht verstanden, aber sie sagte, sie sei glücklich, ihr Leben für meines geben zu können. Ich fühlte mich geliebt und sicher, was großartig war, denn der Böse jagte mir eine Heidenangst ein.«
Während Cookie das Gehörte verarbeitete, wanderte ihr Blick an mir vorbei. »Das ist … das ist … «
»… unglaublich, ich weiß.«
»Erstaunlich.« Sie sah mich wieder an.
Mich überkam eine ungeheure Erleichterung. Ich hätte wissen müssen, dass sie mir glaubt. Andererseits hatte niemand, mit dem ich aufgewachsen war oder der mir nahestand, die Geschichte meiner Geburt jemals geglaubt.
»Also hast du deine Mutter quasi doch kennengelernt, oder?«
»Ja. Und als ich älter wurde, sah ich, dass ich mehr Glück gehabt hatte als viele andere Kinder. Ich werde für diese paar Augenblicke, die wir zusammen hatten, auf ewig dankbar sein.«
»Und du kannst jede Sprache, die jemals auf Erden gesprochen wurde?«
»Jede einzelne«, antwortete ich, froh über den Themenwechsel.
»Sogar Farsi.«
»Sogar Farsi«, nickte ich grinsend.
»Oh, mein Gott!«, schrie sie beinahe. Offenbar fiel ihr etwas ein. Dann wechselte ihr Gesichtsausdruck, ihre Miene verfinsterte sich, und sie streckte mir anklagend den Zeigefinger entgegen. »Ich wusste es. Ich wusste, dass du verstanden hast, was dieser Vietnamese auf dem Markt neulich zu mir gesagt hat. Ich hab’s dir am Gesicht angesehen.«
Ich lächelte und sah mir wieder Reyes’ Bild an, stürzte förmlich in ihn hinein. »Er meinte, du hättest einen Knackarsch.«
Sie schnappte nach Luft. »So ein Perversling.«
»Und dass er scharf auf dich ist.«
»Schade, so klein, wie der war, hätte er in meinen Ausschnitt gepasst.«
»Deshalb stand er wahrscheinlich auf dich«, meinte ich und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.
Cookie saß danach lange schweigend da. Ich gab ihr Zeit, das alles erst mal sacken zu lassen. Dann fragte sie: »Wie kann das nur sein?«
»Tja«, begann ich, um sie ein wenig aufzuziehen, »ich glaube nicht, dass er wirklich in deinen Ausschnitt gepasst hätte, obwohl ich sicher bin, dass ihm die Vorstellung gefallen
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