Das Flüstern der Toten (German Edition)
unvorstellbarer Lust in mir tosen ließ. Ich dachte an den Kuss in Cookies Büro, wie er meine Hand geführt und mich gehalten hatte, als meine Knie unter mir nachgaben. Dann erinnerte ich mich an die Nacht vor zwölf Jahren, als sein Vater ihn geschlagen und er für den Bruchteil einer Sekunde das Bewusstsein verloren hatte. Ich erinnerte mich an seinen Blick, als er wieder zu sich kam. An den Zorn, der sich nicht gegen seinen Vater richtete, sondern gegen mich! Er hatte mich angesehen: Für einen Sekundenbruchteil sah er mich und wurde von Zorn gepackt.
Dann spürte ich eine Tasse an den Lippen, ein warmes an meinen Kopf gedrücktes Handtuch, einen Arm, der mich umfasste, während ich in die Wirklichkeit zurückfand und mich fragte, wo meine Knochen abgeblieben sein konnten.
»Geht es Ihnen gut, Ms Davidson?«
»Hier«, ließ sich eine Frau vernehmen, »trinken Sie das. Sie sind schlimm gestürzt.«
Ich schluckte kaltes Wasser, schlug die Augen auf und sah den Vollzugsbeamten und die Krankenschwester über mich gebeugt. Der Beamte drückte mir ein feuchtes Handtuch gegen den Kopf, während die Schwester mich zu einem weiteren Schluck bewegen wollte. Dann schleppten sie mich zu einem Stuhl vor dem Krankenzimmer und versuchten, mich darauf festzuhalten, obwohl mein schlaffer Körper weiter darauf bestand, Bekanntschaft mit dem Bodenbelag zu machen.
»Na, so was«, bemerkte die Schwester. »Haben Sie sie?«
»Zuerst ja, aber sie entgleitet mir immer wieder wie ein Riesenhaufen Spaghetti.«
»Was?« Ich schreckte plötzlich hoch. »Riesenhaufen? Was war denn?«
Ich blickte in die vergnügten Augen des Beamten, nahm noch einen Schluck und lauschte seiner Erklärung.
»Entweder Sie sind in Ohnmacht gefallen, oder Sie wollten sich die Risse im Bodenbelag aus der Nähe ansehen. Auf jeden Fall haben Sie sich ordentlich gestoßen.«
»Echt?«
Er nickte. »Vielleicht hätten Sie besser nicht mit ihm rummachen sollen«, meinte er vielsagend.
Woher wusste er das? »Ich wollte ihn bloß zum Abschied küssen.«
Er schnaubte und wechselte einen Blick mit der Krankenschwester. »So sah das für mich aber nicht aus.«
Vermutlich nicht. Aber was war passiert? Hatte Reyes Farrow sogar solche Gewalt über mich, dass ich selbst nicht mitbekam, was wir zusammen taten? Dann wäre ich verloren.
»Du meine Güte«, rief ich und sprang auf. Nach einer kurzen Schwindelattacke, die mich sehr an den Abend erinnerte, wo ich meinen Abgang von der Highschool gefeiert hatte – in einer Pfütze meines Erbrochenen – , ging ich auf wackligen Beinen in Reyes’ Krankenzimmer zurück, bewunderte noch ein paar Sekunden lang seine Schönheit, gab ihm einen kurzen Abschiedskuss – auf die Wange – und rannte nach kurzem Dank an den Beamten und die Krankenschwester aus dem Krankenhaus. Ich musste Reyes’ Schwester finden, und die Zeit lief mir davon.
»Du bist ohnmächtig geworden?«
Ich seufzte ins Telefon und wartete, bis Cookie sich von ihrer Überraschung erholt hatte. Warum sie jetzt noch etwas überraschte, ging über meinen Verstand. »Hast du bei den Zeugnissen einen Treffer gelandet?«
»Noch nicht. Du bist umgekippt? Nachdem du ihn geküsst hast?«
»Sonst irgendwas, das ich wissen müsste?«
»Ja, ich habe die Datensticks durchsucht. Die gehören alle Mr Barber. Aber da sind bloß seine Gerichtsakten drauf.«
»Verflixt. Ich muss mit Barber darüber reden.« Wo steckten meine Anwälte eigentlich? »Und ich muss die Datensticks zurückbringen, bevor die Sekretärin merkt, dass sie verschwunden sind.«
Bevor wir Schluss machten, bat ich Cookie noch herauszufinden, ob die Sekretärin, Nora, ins Büro gegangen war. Hoffentlich nicht. Wenn Sie gar nicht erst dort auftauchte, würde sie die Datenträger auch nicht vermissen.
Gerade als ich Misery auf den Parkplatz des Causeway (auch bekannt als mein Zuhause) lenkte, dudelte mein Handy Beethovens Fünfte. Onkel Bob berichtete mir, dass der Schütze identifiziert und einer Adresse zugeordnet worden war. Beziehungsweise der Bursche, den man für den Todesschützen hielt. Ich wünschte, wenigstens einer der Anwälte hätte seinen Mörder gesehen. Jedenfalls arbeitete er für Noni Bachicha, der in der Stadt eine Karosseriewerkstatt hatte. Ich kannte Noni, er war nie zuvor in etwas Derartiges verwickelt gewesen, also musste es eine andere Verbindung geben. Aber solange wir den mutmaßlichen Täter nicht im Sack hatten, wussten wir gar nichts mit Sicherheit. Onkel Bob war auf dem
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