Das Flüstern der Toten (German Edition)
konnte ihn riechen, schmecken, und ich begehrte ihn mehr denn je.
»Das ist nicht das erste Mal, dass so was passiert, weißt du.«
Ich sah zu Dad auf. Ich hatte ihn angefleht, meiner Stiefmutter nichts zu sagen. Er hatte das widerwillig abgenickt und geflucht, dass sie ihm die Hölle heiß machen würde, wenn er nach Hause käme. Irgendwie bezweifelte ich das.
»In deinem Wohnhaus«, sagte er neben mir, »hat sich schon mal genau dasselbe abgespielt. Du warst damals noch klein.«
Mein Vater hoffte, etwas aus mir rauszukriegen. Er hegte seit Langem den Verdacht, dass mir an jenem Abend etwas passiert war. Die Ermittlung wegen des bizarren Angriffs auf den Sittenstrolch auf Freigang hatte er damals geleitet. Und nun setzte er, nach über zwanzig Jahren, die Puzzleteile zusammen. Und er hatte recht. Es war nicht das erste und nicht das zweite Mal. Wie es aussah, war Reyes Farrow schon eine ganze Weile mein Schutzengel.
Da ich sowieso nicht ergründen konnte, was es damit auf sich hatte, beschloss ich, gar nicht erst darüber nachzudenken, und konzentrierte mich stattdessen auf zwei Dinge, die mit Reyes gar nichts zu tun hatten: ich trank meine heiße Schokolade und beruhigte meine zitternden Hände.
»Jemand durchtrennt ohne die geringste Verletzung des umliegenden Gewebes, ohne dass Blut austritt, das Rückgrat eines Mannes, und du warst beide Male dabei.«
Er erwartete, dass ich einknickte und ihm verriet, was ich wusste und was er längst vermutete. Ich schätze, dass ich mich an dem Tag verändert habe, ein bisschen verschlossener wurde. Aber warum sollte ich ihm jetzt davon erzählen? Es würde ihn doch nur quälen. Er musste ja nicht alles über mein Leben wissen. Außerdem gab es gewisse Dinge, die man seinem Vater nicht mal mit siebenundzwanzig anvertrauen wollte. Und selbst wenn, dann hätte ich die Worte nicht über die Lippen gebracht.
Ich drückte seine Hand. »Nein, war ich nicht, Dad. Damals nicht«, log ich schweren Herzens.
Er wandte sich von mir ab und schloss die Augen. Er hätte gern alles gewusst, aber wie ich schon zu Cookie gesagt hatte, war es nicht immer gut, alles zu wissen.
»War das derselbe Typ wie neulich Abend? Der dich vermöbelt hat?«, erkundigte sich Onkel Bob.
Ich senkte meine Tasse und antwortete: »Ja, er wollte mich aufreißen, ich sagte Nein, er wurde kiebig, den Rest kennst du.« Ich hatte nicht vor, den beiden die Wahrheit zu sagen. Damit würde ich bloß Rosies Freiheit aufs Spiel setzen.
»Ich würde sagen, wir fahren jetzt alle aufs Revier und gehen das im Einzelnen durch«, sagte Onkel Bob.
Dad warnte ihn mit einem scharfen Blick, während ich mich alarmiert aufrichtete. Es war nicht schön, wenn die zwei sich zankten. Vielleicht nicht ganz ohne Witz, aber ich bezweifelte, dass irgendwer in lachlustiger Stimmung war. Abgesehen von mir. Lachen war wie Wackelpudding. Der ging immer.
»Schön, ich würde auch gerne aus der Kälte rauskommen«, sagte ich, haarscharf am Dritten Weltkrieg vorbeischrammend.
»Du kannst mit mir fahren«, meinte Onkel Bob kurz darauf. Was glaubte mein Vater denn, was er tun würde? Ubie kannte die Regeln. Am Ende musste sowieso jeder seine Aussage machen. Da konnten wir es auch gleich hinter uns bringen.
Dann sah Onkel Bob Garrett an. »Sie können ebenfalls mit mir fahren.«
Mein Vater sah ihn überrascht, dann dankbar an, als Onkel Bob ihm zuzwinkerte. Dad begleitete mich zu Onkel Bobs SUV, beugte sich zu mir herab und flüsterte: »Ihr beide müsst eure Geschichten gut aufeinander abstimmen. Gib du in deiner Aussage lediglich an, dass zwei Männer vor deiner Tür standen. Die beiden rangen miteinander, die Schusswaffe ging los, und der andere Kerl hat sich über die Feuerleiter verpisst.«
Ehe er die Tür zuschlug, klopfte er mir auf den Rücken und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Er wirkte so besorgt, dass ich mich mit einem Mal für alles schuldig fühlte, was er während meiner Kindheit hatte durchmachen müssen. Er hatte meinetwegen so viel auf sich genommen, hatte Erklärungen aus dem Hut gezaubert, Männer hinter Gitter gebracht und dafür gesorgt, dass mich niemand damit in Verbindung bringen konnte. Und jetzt musste er sich darauf verlassen, dass Onkel Bob an seiner Stelle dasselbe tat.
»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Garrett, bevor Ubie in den Wagen stieg. »Der Typ muss über zweihundert Pfund gewogen haben.«
Wir saßen beide hinten. »Das war ich nicht.«
Er sah mich ernst an, versuchte, das zu
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