Das Flüstern der Toten (German Edition)
dagegen unternehmen. Und das können wir nur, wenn wir seine Schwester finden.«
»Aber er ist doch … ein so mächtiges Wesen.«
»In Menschengestalt«, hob ich hervor. »Ich weiß nicht, was aus ihm wird, wenn sein Körper stirbt.« Allerdings wusste ich sehr wohl, was dann mit mir passieren würde. Ohne ihn wollte ich nicht leben. Im Moment wusste ich nicht mal, ob das überhaupt ging.
Fünfzehn Minuten später hatten wir Ausdrucke von Reyes’ Stundenplänen sowie die Teilnehmerlisten sämtlicher Kurse.
»Erinnern Sie sich an ihn?«, fragte ich Ms Tarpley.
Sie riss sich vom Anblick meines Onkels los und wandte sich mir zu. »Ich bin erst seit zehn Jahren hier«, antwortete sie.
»Und andere Farrows haben Sie nicht?«
»Nein, tut mir leid. Vielleicht ging seine Schwester ja noch nicht auf die Highschool.«
»Könnte sein. Und er war auch nur drei Monate hier.« Ich sah wieder in den Ordner über Reyes. »Hier steht allerdings, dass er seinen Abschluss gemacht hat.«
»Nicht auf dieser Highschool«, widersprach sie. »Moment mal.« Ihre Fingernägel klapperten auf der Computertastatur. »Ich habe hier den Eintrag, dass er ein Abschlusszeugnis erworben hat, aber das ist unmöglich.«
Ich neigte mich zu Onkel Bob. »Nicht für einen versierten Hacker.« Allmählich wurde mir klar, wie Reyes seine Intelligenz und seine Computerkenntnisse genutzt hatte.
»Vielen Dank für Ihre Mühe, Ms Tarpley«, sagte Ubie und nahm ihre Hand.
Sie verdrehte die Augen. Er verdrehte die Augen. Ziemlich romantisch das Ganze, aber ich musste eine Vermisste finden. Also knuffte ich Onkel Bob mit dem Ellbogen. »Machen wir uns auf den Weg.«
Er protestierte schwach, wandte sich ihr noch mal zu und nahm Abschied. Wir wollten gerade zur Tür hinaus, als ich schlitternd zum Stehen kam. »Oh«, rief ich und förderte eine Notiz zutage. »Ich hab das hier da drüben in der Ecke gefunden. Sah irgendwie … wichtig aus.«
»Danke«, sagte sie und faltete das Blatt Papier auseinander.
Als wir draußen am Gebäude entlanggingen, schaute ich neugierig in ihr Fenster hinein. Sie drückte die Notiz weinend an ihre Brust. Musste mit dem Seerosenblatt zu tun haben.
Wir machten einen Abstecher in mein Büro, um Cookie die Listen zu übergeben. Sie würde sie abgleichen und mit ein paar Schülern Kontakt aufnehmen, um etwas über seine geheimnisvolle Schwester in Erfahrung zu bringen. Außerdem nahm ich meine Glock aus dem Safe, schob sie in ein Schulterhalfter und legte es an. Unter meiner Lederjacke war die Waffe kaum zu erkennen. Ich hatte die Waffe noch nie ziehen müssen. Aber ich brauchte das Gefühl der Sicherheit, wollte sie am Körper spüren, und sei es auch nur für kurze Zeit.
Auf der Rückfahrt zum Polizeipräsidium tauchten zwei meiner Anwälte in Onkel Bobs SUV auf. Vorhin war ich gefahren, doch nach einem kleinen Missgeschick bestand Ubie drauf, das Steuer zu übernehmen.
Elizabeth Ellery saß hinter ihm. »Hallo, Charlotte!«
»Hallo.« Ich wandte mich den beiden zu. »Wie geht’s Ihnen?«
Jason Barber wölbte die Augenbrauen. »Meine Mutter ist sauer.«
»Überrascht Sie das?«, fragte ich und sah, wie Onkel Bob auf seinem Sitz herumrutschte. Ihm war seit je her unbehaglich, wenn er Verstorbene in seiner Nähe wusste, weil er auf die keinen Einfluss nehmen konnte.
»Na ja, irgendwie schon.«
»Geht’s Ihrem Onkel nicht gut?«, erkundigte sich Elizabeth besorgt.
Verschmitzt grinsend antwortete ich: »Er ist sauer auf mich.«
Onkel Bob straffte sich. »Redest du über mich?«
»Elizabeth und Barber sind hier. Sie hat gefragt, ob es dir gut geht.«
Er umfasste das Lenkrad etwas fester als erforderlich. »Du wirst diesen Wagen nie wieder fahren.«
Ich verdrehte die Augen. »Mensch, Ubie, das Schild war total überflüssig. Mal ehrlich, wie oft muss man an eine Geschwindigkeitsbegrenzung erinnert werden? Das Schild wird schon keiner vermissen.«
Um sich zu beruhigen, holte er tief Luft. »Ich werde zu alt für den Mist.«
»Ja, klar, Impotenz, Altersschwäche und jetzt auch noch ohne Stoßstange.« Ich guckte zu, wie Onkel Bobs Gesichtsfarbe von der typischen Blechschadenblässe zu Rosenrot wechselte. Ich musste lachen. Aber bloß innerlich, weil er echt stinkig auf mich war. »Wo ist Sussman?«, fragte ich die Anwälte.
Elizabeth senkte den Blick. »Immer noch bei seiner Frau. Sie macht eine schwere Zeit durch.«
»Das tut mir leid.« Ich hasste es nicht nur, mich mit den Hinterbliebenen herumzuschlagen, ich
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