Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
dass Faichen Glas gesagt hätte, er würde dafür sorgen, dass ich für meine Tat würde büßen müssen. Er ist ein reicher und mächtiger Adliger. Ich floh in den Süden.«
»Wieso hätte Nessán über dich herfallen wollen?«
Ulam Fionn zuckte vage mit den Achseln. »Kommt ein armer Hund erst mal ins Gerede, hat er nichts mehr zu melden. Er und seinesgleichen haben mich nie leiden können. Alles mögliche schieben sie mir in die Schuhe, dabei bin ich völlig unschuldig. Alle Welt ist gegen mich.«
Immer noch fühlte sich Fidelma irgendwie schuldbewusst, dass sie nur wegen seines Aussehens ein gewisses Unbehagen gegen den Mann hegte. Wollte sie später, wenn sie die Hohe Schule für Recht absolviert hatte, als eine
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erfolgreich sein, als Anwältin bei Gericht vor den Brehons, dürfte sie es zu keinerlei Befangenheit kommen, sich zum Beispiel nicht vom Äußeren eines Menschen leiten lassen. Das Aussehen einer Person war kein Maßstab. Was schärfte Brehon Morann seinen Studenten ständig ein? Ein schöner Laubbaum trägt oft bittere Früchte. Der äußere Schein kann leicht trügen.
»Rechtsprechung ist nicht dazu da, Partei zu ergreifen, sondern die Wahrheit zu ergründen«, versuchte sie den Mann zu beruhigen, der ihr fast leid tat. »Du wirst doch in der Lage sein, einen erfahrenen Rechtsanwalt zu finden, der dich vertritt.«
»Die Adligen der Uí Echach Cobo sind mächtige Leute«, jammerte der Flüchtling. »Sie werden keine Ruhe geben, bis sie sich an mir gerächt haben.«
»Töten aus Notwehr ist kein Mord, sagt das Gesetz«, bedeutete ihm Fidelma.
Ulam Fionn lachte rauh auf. »Und ich muss Notwehr beweisen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Deine Kläger müssen Mord beweisen.«
»Ich falle lieber gar nicht erst in deren Hände, verspüre keine Lust, mich mit denen anzulegen.«
Bruder Mongan machte hüstelnd auf sich aufmerksam. »Das ist nicht die rechte Art und Weise, die Dinge zu betrachten, mein Sohn«, tönte er salbungsvoll. »Eine Weile bist du hier sicher, doch du solltest den Rat der Rechtsgelehrten wohl bedenken. Wenn du in besserer Verfassung bist, wirst du dir in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen, wie du dich am klügsten verhältst.«
»Vielen Dank, Bruder Mongan«, wandte sich Fidelma an den Mönch. »Ich bin sicher, du wirst ebenfalls Ulam Fionn zureden, dass es für ihn das Vernünftigste ist, auf die Rechtsprechung zu vertrauen und seinen Fall Abt Sionna und dessen Brehon zu Gehör zu bringen.«
»Ich werde ihm Rat erteilen, meine Tochter«, stimmte ihr der fromme Bruder zu. »Kann ich dir sonst noch irgendwie zu Diensten sein?«
Fidelma überlegte einen Moment.
Den gesetzlichen Belangen war sie nachgekommen, und doch war sie von ihrer Mission nicht befriedigt. Ein unbestimmtes Gefühl hielt sie zurück und ließ sie nicht gleich gehen. Vorausgesetzt, Ulam Fionn sprach die Wahrheit, und immerhin musste man eine solche Möglichkeit in Erwägung ziehen, sollte sie ihm vielleicht bei der Klärung seines Problems behilflich sein. Schließlich kannte sie etliche einflussreiche Familien, die Wege finden würden, die Rechtsprechung zu hintertreiben. Wenn es sich wirklich um Notwehr handelte, dann wunderte es sie nicht, dass der Mann sich scheute, auf die Gesetzgebung zu setzen.
Sie ließ ihren Blick durch den Kirchenraum gleiten. »Bist du hier einigermaßen gut untergebracht?«, fragte sie unvermittelt. »Ich kann mir vorstellen, dass es in dem alten Gemäuer kalt und zugig ist.«
»Ich komme schon zurecht«, erwiderte der Schutzsuchende. Ihre plötzliche Besorgnis wunderte ihn.
»Mach dir darüber keine Gedanken, Tochter«, mischte sich Bruder Mongan ein. »Unter dem Altar befindet sich ein kleines Gewölbe, dort ist es warm und angenehm. Wir …«
Mitten im Satz hielt er inne und schaute zur Erde.
»Es fehlt mir an nichts«, beeilte sich Ulam Fionn zu bekräftigen.
»Dann kann ich es dabei belassen«, meinte Fidelma. »Es scheint soweit alles in Ordnung.«
Bruder Mongan begleitete sie zur Tür.
»Ist es das erste Mal, dass du einem Flüchtling Freistatt gewähren musstest?« fragte sie.
»Ja.« Man sah ihm seine Erleichterung an, dass sie nichts zu beanstanden hatte.
»Mitunter ist es nicht einfach, zu entscheiden, wie man sich verhalten und was man tun soll, um dem Gesetz gerecht zu werden«, fuhr sie fort. »Du hast doch vermutlich das
Cáin Snádud
gelesen?«
Er zog die Brauen hoch. »Das was?«
»Das Gesetz über die Gewährung von Schutz vor
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