Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
Bauernjungen zum Tod durch den Strick verurteilt, weil dieser angeblich ein Schaf gestohlen hatte. Es stellte sich heraus, dass der Junge unschuldig gewesen war, und seine Mutter, der Stütze ihres Alters beraubt, hatte die Familie verflucht – mit fatalen Folgen.
Phillimores Familie war, wie er mir versicherte, mit den Tullyfanes nicht verwandt. Sein Urgroßvater hatte Tullyfane Abbey gekauft, als der damalige Lord kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag beschloss, den verfluchten Ort zu verlassen und nach England auszuwandern. Obwohl er kein Tullyfane war, stürzte Jacks Urgroßvater, ein General, an seinem fünfzigsten Geburtstag vom Pferd und brach sich das Genick. Sein Sohn, ein gefürchteter Richter, wurde an seinem fünfzigsten Geburtstag erschossen. Der örtliche Inspektor der Königlich Irischen Polizei führte sein unzeitgemäßes Ableben eher auf den Beruf des Ermordeten als auf übernatürliche Kräfte zurück. In diesem Land, in dem Richter und Polizisten vom gemeinen Volk als verlängerter Arm der Kolonialmacht betrachtet wurden, kam es häufiger zu derart plötzlichen Todesfällen.
Während der Zug durch Tipperary fuhr und sich allmählich der Grenze zur Grafschaft Kerry näherte, fragte ich Phillimore: »Ver mutlich macht sich dein Vater nun große Sorgen, da sich sein fünfzigster Geburtstag nähert?«
Phillimore nickte bedrückt.
»Meine Schwester schreibt, dass sie das Gespenst mitten in der Nacht weinen hört. Mein Vater hat es angeblich sogar gesehen, in Gestalt eines Jungen, der schluchzend im Turmzimmer umhergeht.«
Ich hob skeptisch die Augenbrauen. »Zwei Zeugen wollen das Gespenst gehört oder gesehen haben? Ich kann dir versichern, dass es nichts auf dieser Welt gibt, dass sich nicht anhand naturwissenschaftlicher Gesetze erklären lässt!«
»Nicht auf dieser Welt, aber vielleicht in einer anderen«, sagte Phillimore leise vor sich hin.
»Warum bleibt deine Familie in Tullyfane, wenn sie an diesen Fluch glaubt?«, wollte ich wissen. »Wäre es nicht besser, das Haus und die Ländereien zu verkaufen und wegzuziehen?«
»Mein Vater ist eben halsstarrig, Holmes. Er weigert sich, Tullyfane zu verlassen, weil er jeden Penny seines Vermögens in dieses Haus investiert hat, bis auf das Geld, mit dem er das Stadthaus in Dublin kaufte. An seiner Stelle würde ich das Haus sofort an Moriarty veräußern.«
»Wieso ausgerechnet an Moriarty?«
»Er hat Vater angeboten, es ihm abzukaufen, falls er die Situation nicht länger erträgt.«
»Wie großzügig«, bemerkte ich. »Fürchtet er sich nicht vor dem Fluch?«
»Er geht davon aus, dass der Fluch nur anglo-irische Familien trifft und dass er dagegen gefeit ist, denn er ist ein Abkömmling des sagenhaften Königs Milesius, ein irischer Kelte reinsten Wassers.«
Colonel Phillimore hatte eine Kalesche zum Bahnhof von Killarney geschickt, um uns abzuholen. Er empfing uns in der Bibliothek von Tullyfane Abbey. Ich merkte sofort, dass er nicht in allerbester Verfassung war. Als er mir zur Begrüßung die Hand reichte, sah ich, dass sie zitterte.
»Jacks Studienfreund, wie? Ja, an dich kann ich mich erinnern. Von den Holmes’ aus Galway, wie? Der Bruder von Mycroft Holmes, der für den Staatssekretär arbeitet, wie? Für Lord Hartington, wie?«
Er hatte die irritierende Angewohnheit, im Telegrammstil kurze Sätze auszustoßen und sie mit »wie?« zu beenden.
Dann kam Agnes Phillimore herein, um uns zu begrüßen. Meine Güte, Watson, damals war ich ein junger Heißsporn, aber selbst aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass sie außergewöhnlich schön war. Sie reichte mir lächelnd die Hand, doch ich merkte sofort, dass dieses Lächeln nicht die Wärme und Innigkeit barg, die ich einst zu erkennen glaubte. Auch aus ihren Worten klang Zurückhaltung – sie begrüßte mich, wie man eben einen guten Bekannten begrüsst. Während ich mich mit jugendlicher Leidenschaft an ein Bild geklammert hatte, das ich mir von ihr gemacht hatte, war sie zu einer reifen Frau geworden. Damals konnte ich es mir noch nicht eingestehen, aber heute weiß ich, dass die Leidenschaft von vorn herein einseitig gewesen ist. Einfältige Jugend! Was soll ich sonst dazu sagen?
Beim Abendessen war die Stimmung gedrückt: Ich haderte mit der Ungerechtigkeit der Welt, die Phillimores mit dem Fluch, der über dem Haus hing. Wir waren bereits beim Dessert, als Agnes, die im Begriff war, ihre Gabel zum Mund zu führen, mitten in der Bewegung erstarrte. Im nächsten Augenblick
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