Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
himmelwärts und sagte, er wolle doch lieber seinen Schirm holen. Er eilte zurück zum Haus. Ich sah ihn noch hineingehen. Danach hat ihn nie wieder eine Menschenseele zu Gesicht bekommen.
Nachdem wir ein paar Minuten geduldig gewartet hatten, schlug Professor Moriarty vor, wir sollten uns langsam auf den Weg machen, in einem gemächlichen Tempo, so dass uns der Colonel mühelos einholen konnte. Phillimore und ich willigten ein, aber als wir das Tor des Anwesens erreichten, fing ich an, mich um den Colonel zu sorgen. Es waren bereits zehn Minuten vergangen – wo blieb er nur? Ich bat die anderen, auf mich zu warten, und ging zurück zum Haus.
Der Schirm des Colonels war an seinem Platz im Schirmständer. Vom alten Herrn war weit und breit nichts zu sehen. Als ich nach Malone klingelte, schlurfte dieser herbei und schwor Stein und Bein, dass er den Colonel nicht mehr gesehen habe, seit dieser mit uns das Haus verließ. Murrend zog er los, um im Schlafzimmer seines Herrn nachzuschauen, während ich mich im Arbeitszimmer umsah. Als auch Jack Phillimore und Professor Moriarty zurückkehrten, hatten der Butler und ich bereits das ganze Haus durchsucht.
Kurz darauf kam Agnes aus dem Weinkeller. Sie wirkte ein wenig zerzaust und hatte die Inventarliste in der Hand. Als sie erfuhr, dass ihr Vater nirgendwo aufzufinden war, reagierte sie so verzweifelt, dass ihr Malone zur Beruhigung einen Brandy bringen musste. Sie erklärte, sie sei die ganze Zeit unten gewesen und habe nichts Außergewöhnliches gehört oder gesehen.
Moriarty schlug vor, der Gründlichkeit halber auch noch den Keller zu durchsuchen. Ich begleitete ihn, während Phillimore bei seiner Schwester blieb.
So wenig ich Moriarty mochte, so wusste ich doch, dass er beim Verschwinden des Colonels seine Hand nicht im Spiel gehabt haben konnte, er hatte schließlich mit uns das Haus verlassen und es erst zusammen mit Jack wieder betreten.
Wie vorauszusehen, blieb unsere Suche im Keller erfolglos. Zwar waren die Gewölbe so groß, dass man bei Bedarf eine ganze Armee dort hätte verstecken können, aber der Eingang befand sich direkt vor dem Weinkeller; wenn jemand hineingekommen wäre, hätte Agnes ihn gesehen. Colonel Phillimores Verschwinden blieb ein Rätsel.
Ich hielt mich eine weitere Woche in Tullyfane auf, um den Fall doch noch zu lösen. Die Polizei suchte ebenfalls nach dem Colonel, gab aber irgendwann auf. Schließlich wurde es Zeit für mich, nach Oxford zurückzukehren. Da weder Agnes noch Moriarty besonderen Wert auf meine Anwesenheit zu legen schienen, reiste ich ab.
Erst nach einigen Monaten erhielt ich einen Brief von Jack Phillimore. Er war in Marseille abgestempelt worden. Es sollte der einzige und letzte bleiben.
Zwei Wochen nach meiner Abreise, berichtete Phillimore, habe man im Schreibsekretär seines Vaters einen Abschiedsbrief entdeckt, in dem der Colonel mitteilte, er wolle sich lieber selbst das Leben nehmen, als an seinem fünfzigsten Geburtstag dem tödlichen Fluch zum Opfer zu fallen. Überdies habe man ein neues Testament gefunden: Agnes erhielt in Anbetracht ihrer bevorstehenden Hochzeit Tullyfane, während Jack das Haus in Stephens Green erben sollte. Obwohl er diese Entscheidung seines Vaters nicht nachvollziehen konnte und es keinerlei Beweise für dessen Tod gab, verzichtete Jack entgegen dem Rat seines Anwalts darauf, das Testament anzufechten, schlug jedoch das Erbe aus. Er wünschte seiner Schwester viel Glück und ging als Missionar nach Afrika, wo er, wie ich zwei Jahre später erfuhr, in Britisch-Ostafrika bei einem Aufstand der Eingeborenen ums Leben kam, und das lange vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Soviel zum Thema Flüche.
Und Agnes? Sie heiratete James Moriarty, womit dieser in den Besitz des Anwesens kam. Ein halbes Jahr später war sie tot. Bei einem Ausflug zur Insel Beginish vor der Küste von Kerry, wo sie zusammen mit Professor Moriarty zylindrische Basaltformationen besichtigen wollte, die jenen am Giant’s Causeway verblüffend ähneln, kenterte das Boot.
Moriarty war der einzige Überlebende der Tragödie.
Er verkaufte Tullyfane Abbey an einen reichen Amerikaner und ging nach London, um ein Leben in Muße zu führen. Aufgrund seines ausschweifenden Lebensstils war das Geld jedoch bald verbraucht. Um erneut zu Wohlstand zu gelangen, musste er seine kriminelle Laufbahn fortsetzen. Nicht von ungefähr habe ich ihn als den »Napoleon des Verbrechens« bezeichnet.
Was Tullyfane betrifft, so versuchte
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