Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
seufzte.
»Meiner Treu, warum musste er auch so viel wirres Zeug reden! Wenn er gewusst hätte, dass er bald stirbt, hätte er vermutlich nicht so viel Zeit damit vertan, aus dem Stück zu rezitieren.«
Noch während er sprach, bemerkte er einen Stapel Papier auf dem Bett. Er hob die Seiten auf und überflog sie.
»Ende gut, alles gut«, las er vor. »Aber nicht für alle.«
Er wollte das Manuskript zurück an seinen Platz legen, als sein Blick zufällig auf eine Zeile fiel, die ihn an etwas erinnerte. »Schien’s, eine Schlange sähst du«, flüsterte er nachdenklich vor sich hin. Dann fragte er den alten Konstabler: »Seid Ihr sicher, dass das Zitat ›Das Schauspiel sei die Schlinge‹ tatsächlich aus dem anderen Stück stammt, dessen Titel Ihr vorhin genannt habt, und nicht aus diesem neuen?«
»Das Stück ›Hamlet, Prinz von Dänemark‹ habe ich gesehen, das neue nicht. Das hat noch niemand gesehen. Es sollte, wenn Ihr Euch erinnern wollt, doch erst uraufgeführt werden.«
»Wohl wahr.« Drew schien kurz zu überlegen. Dann klemmte er sich das Manuskript unter den Arm und folgte seinem Vorgesetzten nach unten. Topcliff erteilte Anweisungen, den Leichnam abtransportieren zu lassen. Für heute war nichts mehr zu tun. Topcliff und Drew begaben sich nach Hause.
Als Konstabler Topcliff am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat Hardy Drew ein. Er war blass, und seine Augen waren verquollen.
»Offenbar habt Ihr schlecht geschlafen«, kommentierte Topcliff trocken. »Hat Euch der Mord so sehr beschäftigt?«
»Nicht der Mord. Ich habe die ganze Nacht damit verbracht, Meister Shakespeares neues Stück zu lesen.«
Topcliff schmunzelte. »Ich hoffe, die Lektüre war lohnend«, bemerkte er.
Drew setzte sich, griff nach einem Becher Ale und nahm einen kräftigen Zug. Sein Grinsen war fast spitzbübisch. »Und ob!«, sagte er. »Bei der Lektüre hat sich so manches Geheimnis gelüftet.«
Topcliff sah ihn prüfend an. »Ach ja?«
»Jawohl! Ich weiß jetzt, wer der Mörder ist! Wie mir der arme Teufel Fulke zu sagen versuchte, ist das Schauspiel die Schlinge, und zwar die Schlinge, mit der wir den Übeltäter fangen werden. Er zitierte aus dem Stück, um mir Hinweise auf die Identität des Mörders zu geben. Ihr hattet übrigens recht: Das Zitat mit der Schlinge stammt nicht aus dem neuen Stück, wohl aber die anderen Zeilen, die er sprach …«
Eine Stunde später standen Topcliff und Drew auf der Bühne des Globe-Theaters. Die Schauspieler hatten sich um sie versammelt und warteten mit ernsten Mienen. Burbage hatte sich von seinem gestrigen Schreck erholt und war inzwischen eher verärgert über die finanziellen Einbußen, die ihm aufgrund der Verzögerung entstanden.
»Was nun, mein guter Konstabler, wie geht es jetzt weiter?«, rief er. »Zwei meiner besten Darsteller sind tot, und Ihr habt uns den Täter noch nicht genannt.«
Topcliff deutete lächelnd auf Hardy Drew. »Mein Assistent wird Euch gleich den Namen des Mörders verraten.«
Drew trat vor. »Es steht alles im neuen Stück«, sagte er schmunzelnd und hielt das Manuskript empor, damit alle es sehen konnten. »Es handelt davon, dass der Graf von Rousillon eine Dame zurückweist. Sie will ihn unbedingt für sich erobern und verfolgt ihn, zunächst in der Verkleidung eines Mannes.«
Es ging ein Raunen durch die Versammlung.
»Die Handlung ist kein Geheimnis«, bemerkte Burbage.
»Wohl wahr. Die Sache ist die, dass Bertrando, der den Grafen von Rousillon spielen sollte, in derselben Lage war wie seine Figur. Unser Bertrando war ein echter Frauenheld. Schlimmer noch, er hatte eine äußerst leidenschaftliche Frau gekränkt. Wie der Graf von Rousillon war Bertrando verheiratet, und wie dieser zog er es vor, seine Ehe geheimzuhalten, nicht wahr, Mrs. Eldred?«
Unter den erstaunten Ausrufen ihrer Kollegen räumte Hester Eldred ein, dass es so gewesen war.
»Jener leidenschaftlichen Frau«, fuhr Hardy Drew fort, »miss fällt Bertrandos liederlicher Lebenswandel. Wie Helena in dem Stück verfolgt sie ihn, allerdings nicht, um ihn zurückzuerobern, sondern um ihn zu strafen. Sie sticht auf ihn ein und setzt seinem Leben ein Ende.«
»Wollt Ihr etwa andeuten, dass Bertrando von einer Frau getötet wurde?« stieß Burbage fassungslos hervor. »Fulke sagte doch, es sei ein Mann gewesen, der in die Garderobe ging.«
»Fulke beschrieb in der Tat einen Mann mit kleiner Statur. Bedauerlicherweise« – er warf seinem Vorgesetzten einen kurzen
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