Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
Themse, sondern auch die sterblichen Überreste der Armen und Kranken, deren Angehörige nicht in der Lage waren, ein Begräbnis zu bezahlen. Das Wasser war inzwischen dermaßen verseucht, dass man gerade in diesem Jahr in Clerkenwell eine Kläranlage, angeblich die erste in Europa, gebaut hatte, um die Stadt mit frischem Wasser zu versorgen.
Was den Toten von den sechs übrigen unterschied, die man an diesem Sonntagmorgen aus dem Fluss geborgen hatte, war die Tatsache, dass es sich bei ihm um einen gut gekleideten jungen Mann handelte. Trotz der Schäden, die das Wasser angerichtet hatte, erkannte Drew die Merkmale eines Gentlemans. Er war nicht ertrunken, sondern man hatte ihm fachmännisch die Kehle durchgeschnitten, und das, nach dem Zustand der Leiche zu urteilen, vor etwa zwölf Stunden.
Der Konstabler beugte sich hinab und betrachtete leidenschaftslos das Gesicht des Toten. Als Lebender war der junge Mann zweifellos ansehnlich und gepflegt gewesen. Die Haare waren rotblond, der Nasenrücken mit Sommersprossen übersät, und oberhalb des rechten Auges befand sich eine Narbe, die wahrscheinlich von einer Verletzung mit einem Säbel oder einem Messer herrührte. Er war nicht älter als ein- oder zweiundzwanzig.
Vermutlich, dachte Drew, ist er der Sohn eines Gutsherrn oder eines Angehörigen der gehobenen Berufsstände, vielleicht eines Pfarrers. Die Möglichkeit, dass er aus einer wohlhabenden Familie stammen könnte, hatte der Konstabler bereits ausgeschlossen, hatte sein geübter Blick doch längst erkannt, dass die Kleidung zwar modisch, aber nicht von bester Qualität war.
Der Binnenschiffer lugte dem Konstabler über die Schulter und schniefte. »Opfer eines Straßenräubers, was?«
Ohne seine Lederhandschuhe abzulegen, griff Drew nach der Hand des Toten und betrachtete den großen, protzig wirkenden Ring.
»Seit wann verzichten Straßenräuber freiwillig auf den Schmuck ihrer Opfer?«
Er streifte der Leiche den Ring vom Finger und untersuchte ihn eingehend.
»Aha!«, bemerkte er.
»Was habt Ihr, Herr Konstabler?«, fragte der Schiffer.
Hardy Drew hatte erkannt, dass der Ring, so kostbar er auf den ersten Blick wirkte, in Wahrheit nicht viel wert war, weder was das Metall noch was den Stein betraf, ein Umstand, der seine erste Vermutung stützte. Der junge Mann war zwar um Eleganz bemüht, aber keineswegs wohlhabend gewesen.
Am Gurt des Opfers war ein kleiner Lederbeutel befestigt. Er war nur lose verschnürt. Da Konstabler Drew damit gerechnet hatte, dass der Beutel leer sein würde, überraschte es ihn, darin einige Münzen und einen Schlüssel zu finden. Sie waren trocken, genau wie das Innere des Geldbeutels.
»Ein Sixpencestück und ein paar seltsame Kupfermünzen«, kommentierte Drew. Nach genauerer Betrachtung rief er: »Mei ner Treu! Es ist der neue kupferne Viertelpenny! Ich sehe ihn heute zum ersten Mal.«
»Was ist los?«, wollte der Schiffer wissen.
»Diese neuen Münzen sollen den herkömmlichen silbernen Viertelpenny ersetzen. Nun, jedenfalls wurde er nicht wegen seines Geldes ermordet.«
Hardy Drew war im Begriff, sich zu erheben, als er ein Stück Papier bemerkte, das aus dem Wams des Toten lugte. Er zog das durchnässte Schriftstück hervor und faltete es behutsam auseinander.
»Ein Programm des Blackfriars-Theaters. Für das Stück ›The Maid’s Tragedy‹«, stellte er fest.
Er richtete sich auf und winkte zwei Männern von der Wache, die mit einem Handwagen am Kai warteten. Sie kamen an Bord, trugen den Leichnam die steinerne Treppe hinauf und luden ihn auf den Wagen.
»Gibt es eine Belohnung, Herr Konstabler?«, fragte der Schiffer listig. »Immerhin bin ich durch den Leichenfund in Zeitverzug geraten.«
Drew betrachtete den Mann ungerührt. »Nachdem Ihr den Geldbeutel des Toten durchsucht hattet, guter Mann, habt Ihr vergessen, ihn wieder fest zu verschnüren. Wäre der Beutel bereits offen gewesen, als man ihn ins Wasser warf, wäre er innen nicht trocken geblieben, ebenso wenig die Münzen.«
Der Schiffer wand sich unter dem eiskalten Blick des Konstablers.
Drew veränderte seine Taktik und sagte einschmeichelnd: »Eure Belohnung, die Ihr Euch bereits selbst ausgezahlt habt, sei Euch vergönnt, aber wollt Ihr mir nicht rein interessehalber verraten, wie viel Geld im Beutel war, als Ihr ihn fandet?«
»Glaubt mir, Herr Konstabler…«
»Die Wahrheit!«, herrschte Drew ihn an. Seine grauen Augen glitzerten wie nasser Schiefer.
»Ich habe nur einen
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