Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
anzukündigen.
Irgendjemand beugte sich über die Kanone. Befremdlicherweise war die Mündung abwärts gerichtet.
Plötzlich stand Cuthbert Burbage neben ihm. Er schmunzelte, als er Drews kritische Blicke bemerkte. »Das wird für Aufruhr sorgen«, sagte er.
»Euer Bruder erklärte mir vorhin bereits, dass die Kanone abgefeuert wird, wenn der König mit seinem Gefolge auftritt. Allerdings ist mir gerade aufgefallen, dass die Mündung direkt auf die Bühne gerichtet ist. Seht Ihr das?«
»Es kann nichts passieren. Die Detonation wird einzig und allein durch Schießpulver ausgelöst. Es befindet sich keine Munition im Lauf. Sorgt Euch nicht – der junge Toby Teazle kennt sich aus.«
»Das dort oben ist Teazle?«, fragte der Konstabler besorgt. Während er hinauf in die Mündung starrte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Im nächsten Augenblick eilte er zur Treppe im hinteren Bereich des Innenhofs. In seiner Hast schob er alle beiseite, die sich ihm in den Weg stellten. Cuthbert Burbage rief ihm etwas hinterher, das er nicht verstand. Als er den zweiten Rang erreichte, bewegte sich die königliche Prozession bereits über die Bühne. Er erkannte die Stimme des Schauspielers, der den Kardinal Wolsey spielte: »Bis unsre röm’sche Vollmacht abgelesen, lasst Stille rings gebieten!«
Richard Burbage rief: »Zu was Ende? Sie ward schon einmal öffentlich verlesen und ihre Rechtskraft allerseits erkannt, drum spart die Zeit!«
»So sei’s, dann schreitet weiter«, entgegnete Wolsey.
Eine Kakophonie aus Zinken und Hörnern setzte ein. Drew stürzte in die kleine Loge, wo der junge Mann soeben im Begriff war, mit einer brennenden Lunte die Kanone zu zünden. Unten auf der Bühne stand Burbage, der den König spielte, zusammen mit den beiden Kardinälen im vorderen Bereich und schaute wartend empor.
Die Mündung war direkt auf den Kardinal Campejus gerichtet.
Ohne nachzudenken tat der Konstabler einen Satz durch den Raum und versetzte dem Kanonenrohr einen Fußtritt von unten. Die Mündung schoß nach oben und entlud sich explosionsartig. Am Rückschlag merkte Drew, dass die Kanone sehr wohl geladen gewesen war. Das heiße Metallgeschoss zischte quer durch den Raum und schlug in das Strohdach ein, mit dem der Innenhof gedeckt war.
Einige Zuschauer schrien erschrocken auf, andere applaudierten begeistert, bis sich das Prasseln der Flammen im trockenen Strohdach bemerkbar machte. Bald hallte der Ruf: »Feuer, Feuer!« durch das Theater.
Drew wandte sich Teazle zu, unglücklicherweise genau in dem Augenblick, da dieser mit der Faust ausholte und ihm einen Hieb auf den Nasenrücken versetzte. Der Konstabler fiel auf den Rücken und wäre um ein Haar über die hölzerne Balustrade in die Menschenmenge gestürzt, die zu den Ausgängen strömte.
Als er wieder zu sich kam, war der junge Mann schon längst hinunter ins Erdgeschoss geflüchtet und in der Menge untergetaucht. Hardy Drew rappelte sich auf und stieg, so schnell er konnte, die Treppe hinab. Cuthbert Burbage und die Schauspieler waren dabei, das Publikum zu den Ausgängen zu bugsieren. Das trockene Stroh und die alten Holzbalken des Globe-Theaters brannten wie Zunder. Das ganze Haus verwandelte sich zusehends in ein flammendes Inferno.
Drew stöhnte verzweifelt auf, als er begriff, dass Teazle in der Menge verschwunden war und nicht die geringste Aussicht bestand, seiner jemals wieder habhaft zu werden.
Es dauerte länger als neun Monate, genauer gesagt bis zum Frühjahr 1614, bis das neue Globe Theater aus Schutt und Asche auferstand. Der neue Bau war achteckig und das Dach nicht länger aus Stroh, sondern aus Ziegeln. Zum Glück war bei dem Brand niemand verletzt worden. Da die Schauspieler schnell und umsichtig reagiert hatten, waren auch die Kostüme und Requisiten rechtzeitig aus den Flammen geborgen worden. Die Manuskripte hatte man sowieso an einem anderen Ort aufbewahrt. Alles in allem hielt sich der Schaden also in Grenzen.
Neben Oliver Rowe waren zwei weitere Darsteller bei der Einweihung des neuen Theaters nicht zugegen. Beim ersten handelte es sich um Tom Hawkins, der seine Strafe im Newgate-Gefängnis verbüßte. Er war allerdings nicht wegen Plagiats eines Theaterstücks inhaftiert. Das Stück »The Vow Breaker Delivered«, »Die Überführung des Wortbrüchigen« war schon am dritten Tag abgesetzt worden und hatte dem Blackfriars-Theater somit nichts als Verluste eingebracht. Vielmehr saß Hawkins im Gefängnis, weil er sein
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