Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
verneinend den Kopf. »Was wollte er überhaupt da oben?«, fragte er.
»Ich habe ihn hinaufgeschickt«, antwortete der Kapitän. »Er sollte nachschauen, ob der Franzose noch irgendwo auf der Lauer liegt. Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass er auf den Großmast klettern würde. Ich dachte, es hätte sich herumgesprochen, dass er beschädigt ist, also habe ich angenommen, er würde den Besanmast benutzen, aber …«
»Der arme Kerl«, sagte Leutnant Unstead. Er hatte die ganze Zeit hinter Leutnant Gervaise gestanden. »Dann werden wir ihn auch noch dem Meer übergeben müssen, was? Ich werde dem Segelmacher Bescheid sagen, dass er ihn in eine Plane einnäht.«
Eine Stunde später kreuzte die Korvette langsam in nord-nordwestliche Richtung die Bucht. Sie wurde bereits von der britischen Flotte erwartet.
Kapitän Richard Roscarrock ging in seine Kajüte, schloss den Schrank auf und nahm die Miniatur heraus. Voller Missbilligung betrachtete er das weiche, junge Gesicht mit dem kecken roten Mund und den goldenen Locken, ehe er das Bild beiseite legte und sich den leidenschaftlichen Briefen widmete, die mit »Deine Dich liebende P.« unterzeichnet waren.
Sie waren allesamt Ausdruck einer verzweifelten, naiven Verliebtheit. Wie Hart berichtet hatte, schrieb die junge Frau in ihrem letzten Brief, dass sie vermute, ihr Gatte habe Wind von der Affäre bekommen und trachte nun Jardine nach dem Leben. Offenbar handelte es sich bei dem besagten Gatten um einen der Offiziere an Bord der »Deerhound«.
Mit einem leisen Seufzer faltete Roscarrock die Briefe zusammen und legte sie zurück in den Schrank. Dann nahm er mehrere Bögen unbeschriftetes Papier aus dem Schreibpult, stellte das Tintenfass bereit, griff zur Feder und begann zu schreiben.
Er adressierte seinen Brief an Mrs. Mary Roscarrock, c/o Raven Inn, Chatham. Er überlegte kurz, ehe er begann: »Polly, meine geliebte Frau …« Er lächelte grimmig. Welch ein Glück, dachte er, dass der junge Hart nicht wusste, dass »Polly« eine Koseform von »Mary« ist.
Ein flüchtiger Schatten
»Und da wir davon sprechen, wie uns die Zeit durch
die Finger schlupft, als wäre sie ein Tier mit einge-
seiftem Schweif bei ländlichen Spielen …«
Charles Dickens, »Unser gemeinsamer Freund«,
4. Buch, 12. Kapitel
Im kleinen, düsteren Nebenzimmer einer Gaststätte an der Themse saßen zwei Männer an einem dunklen Eichentisch einander gegenüber. In dem seltsamen, dreieckigen Raum gab es kein einziges Fenster. Die flackernde Gaslampe an der Wand über dem Tisch warf tanzende Lichtreflexe auf die Wandvertäfelung aus roter Eiche.
Der ältere der beiden Männer war Anfang fünfzig und von kleiner Statur. Er war tadellos gekleidet, und sein lockiges Haar, das sich an der breiten Stirn zu lichten begann, war perfekt frisiert. Der Schnauzer und der kleine Spitzbart gaben ihm ein intellektuelles Aussehen. Vielleicht war er Professor?
Der Jüngere war Mitte dreißig und hatte helle Haut, große blaue Augen und rotbraunes Haar. Auf undefinierbare Weise wirkte er wie ein Ire, obwohl seine weiche, kultivierte Sprechweise eindeutig erkennen ließ, dass er in England aufgewachsen war.
Die Männer unterbrachen ihr Gespräch, als eine junge Kellnerin eine Karaffe Portwein und zwei Gläser auf den Tisch stellte. Ehe sie den Raum verließ, knickste sie, denn sie kannte den älteren Mann, der gerade versonnen zuschaute, wie eine Vielzahl von Lichtreflexen auf der Oberfläche der Kristallkaraffe aufblitzte.
Der junge Mann sprach als erster wieder. »Ich glaube, Sie machen sich Sorgen, verehrter Schwiegervater«, bemerkte er lächelnd.
Der Ältere runzelte die Stirn. Während er einschenkte, entgegnete er: »Du weißt ganz genau, wie sehr ich diese Anrede hasse.«
Sein Gegenüber zuckte die Achseln. »Seit ich Ihre Tochter Kate geheiratet habe, weiß ich nicht, wie ich Sie nennen soll. Da wir beide Charles heißen, würde es wie ein Echo klingen, wenn wir einander mit demselben Namen anreden würden.«
Die Augen des älteren Mannes blitzten erheitert auf. »Nun, wollen wir uns darauf einigen, dass du mich mit ›Charles‹ anredest und ich dich ›Charley‹ nenne? Anderenfalls müssten wir einander ganz förmlich mit ›Mr. Collins‹ und ›Mr. Dickens‹ ansprechen.« Er reichte seinem Schwiegersohn das gefüllte Glas. Dieser hob es und sagte feierlich: »Auf Ihr Wohl, Charles.«
»Und auf deins, Charley. Auf dass sich dein Roman gut
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