Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
Uniformjacke ein Bündel Papiere und einen kleinen ovalen Silberrahmen hervor. »Ich wollte Ihnen die Sachen übergeben, damit Sie sie wegschließen, bis wir in Chatham einlaufen, Sir.«
Roscarrock warf einen flüchtigen Blick darauf. »Eine Frage noch, Mr. Hart.« Er lächelte sanft. »Ich weiß, dass Leutnant Unstead Ihr Hauptverdächtiger ist, aber wäre es nicht sinnvoll, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass nicht er, sondern ein anderer Offizier der Täter ist? Sollten Sie nicht zunächst einmal alle verdächtigen?«
»Sie haben recht, Sir. Ich versuche, mich nicht allzu sehr festzulegen. Es wäre immerhin denkbar, dass ich mich täusche.«
»Warum also verdächtigen Sie mich nicht? Trauen Sie mir die Rolle des eifersüchtigen Gatten nicht zu?«
Hart schüttelte lächelnd den Kopf. »Daran hatte ich auch schon gedacht, Sir«, sagte er, »aber den Verdacht gegen Sie konnte ich bald verwerfen.«
»Verwerfen? Wieso?«
»Weil mir Ihr Steward verriet, dass der Name Ihrer Gemahlin nicht mit ›P‹, sondern mit ›M‹ anfängt.«
Roscarrocks Lächeln wurde breiter. »Sie haben wirklich an alles gedacht, Mr. Hart«, bemerkte er anerkennend. »Sie haben recht – meine Frau heißt Mary. Sie werden es noch weit bringen, junger Mann. Gut, ich werde also die Briefe und die Miniatur unter Verschluss halten, bis wir unseren sicheren Hafen erreicht haben. Wie gesagt, Sie dürfen mit keinem Wort erwähnen, dass Sie Beweise gegen jemanden in der Hand haben. Am besten, Sie vermitteln den Eindruck, Sie hätten sich davon überzeugt, dass Jardine eines natürlichen Todes gestorben ist.«
»Aye, aye, Sir.«
Roscarrock schloss die Briefe und das Porträt in seinen Schrank.
Die Schiffsglocke ertönte. »Es ist Zeit für den Bestattungsgottesdienst«, sagte Roscarrock. »Gervaise soll alle informieren.«
Kapitän Roscarrock hatte sich geirrt. Der Nebel löste sich nur zögernd auf. Erst zwei Stunden, nachdem man die Toten der See übergeben hatte, begann er sich allmählich zu lichten. Ungeduldig schritt Roscarrock das Achterdeck ab. Ab und zu hörte er Gesprächsfetzen, es wurde oft gelacht. Die Matrosen gingen grinsend ihren Pflichten nach. Der Grund lag auf der Hand. Die Nachricht von Leutnant Jardines Unfalltod hatte sich an Bord wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Kein Heldentod, sondern einfach Pech. Mr. Hart hatte offenbar bekanntgegeben, dass die seltsamen Todesumstände nur auf einem dummen Zufall beruhten.
Schließlich zog sich Roscarrock in seine Kajüte zurück, um dort den Wetterwechsel abzuwarten. Ungefähr eine Stunde später klopfte Hart an die Tür. Er salutierte und verkündete: »Mr. Gervaise lässt ausrichten, dass sich der Nebel jetzt schnell lichtet, Sir. Aus Nord-Nordwest kommt eine steife Brise auf.«
Roscarrock erhob sich. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Klettern Sie hinauf in den Mastkorb und schauen Sie sich um. Ich glaube zwar nicht, dass der Franzose noch auf der Lauer liegt, aber wir wollen auf Nummer sicher gehen.«
Der junge Mann salutierte erneut und eilte davon.
Roscarrock goss sich einen großzügigen Schluck Brandy ein.
Die Zeit schien stillzustehen.
Plötzlich hörte er laute Rufe an Deck.
Er setzte das Glas an die Lippen und trank den Inhalt aus.
»Holt den Kapitän!«, hörte er jemanden rufen.
Wenige Sekunden später klopfte einer der jüngsten Fähnriche, ein höchstens vierzehn Jahre alter Junge, an der Tür der Kapitänskajüte. »Mr. Gervaise lässt ausrichten, Sie möchten so schnell wie möglich an Deck kommen«, sagte er mit piepsiger Kinderstimme.
Roscarrock griff nach seinem Hut und folgte dem Jungen auf das Achterdeck.
Gervaise trat ihm mit blassem Gesicht entgegen. »Der junge Hart, Sir. Er kam an Deck und kletterte den Großmast hinauf zum Mastkorb, bevor ich ihn daran hindern konnte! Ich hatte doch vorhin gesagt, dass feindliche Kettenkugeln die Takelage zerfetzt und die Spieren beschädigt haben. Oberhalb des Großsegels ist alles kaputt. Der junge Hart hat den Halt verloren und ist auf das Deck hinabgestürzt.« Er deutete auf eine Gruppe Matrosen, die sich um etwas versammelt hatten, das wie ein Bündel alter Kleider aussah. Auf dem Boden kniete Smithers, der Schiffsarzt. Während Roscarrock hinüberschaute, erhob er sich und begegnete dem Blick des Kapitäns. »Sein Genick ist gebrochen, Käpten!«, rief er.
»Hätte man den Jungen nicht davon abhalten können, hinaufzuklettern?«, herrschte Roscarrock den Ersten Offizier an.
Gervaise schüttelte
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