Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)

Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)

Titel: Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Tremayne
Vom Netzwerk:
Dickens! Eine Leiche! Sie wurde bis an die Mauer unseres Hauses gespült.«
    Das Wirtshaus stand direkt an der Themse; oft hörte man die Wellen gegen das Gebäude plätschern, das auf unsicherem Grund stand.
    Charley Collins zog eine Grimasse. »Das ist nichts Ungewöhnliches, Miss Mary«, versicherte er der Wirtin. Wie sein Schwiegervater nannten alle Gäste die Wirtin der »Grapes« schlicht »Miss Mary«. »So lange, wie Sie schon hier leben, müssten Sie es eigentlich gewohnt sein, dass Leichen angeschwemmt werden.«
    Er hatte recht. Täglich spie die Themse ihre Toten aus, viele von ihnen Selbstmörder: Gentlemen, die vor dem Ruin standen und nur noch den Ausweg kannten, von der nächstbesten Brücke zu springen, oder Arme, die sich nicht mehr anders zu helfen wussten. In der zweiten Kategorie gab es einen hohen Anteil bedauernswerter junger Frauen, die es nicht länger ertrugen, das Gewerbe auszuüben, das ihre einzige Alternative zum Hungertod darstellte. Oft waren es auch ungewollte Kinder, die ihren Tod in der Themse fanden, oder Menschen, die aus Habgier, Eifersucht oder anderen Motiven ermordet worden waren. Kurzum, in den trüben Gewässern des Flusses trieben die Opfer von Leid und Erniedrigung in jedweder Art.
    Es kursierten sogar abscheuliche Gerüchte über verbrecherische Fährmänner, die Betrunkene aufnahmen und sie im Fluss ertränkten, nachdem sie ihre Taschen geleert hatten, oder ihre Leichen an die Anatomie verkauften.
    Es gab Männer, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, im Fluss und am Ufer nach Kohle und verwertbaren Gegenständen zu suchen, welche von den Schiffen stammten, die häufig den Fluss entlang zu den Docks fuhren. Oft waren es diese Männer, die die Wasserleichen fanden. Meistens waren sie darauf aus, einen Finderlohn zu kassieren oder, wenn sie bei der gerichtlichen Untersuchung zur Todesursache aussagten, Zeugengeld zu bekommen. Alle Toten, die beim Leichenbeschauer abgeliefert wurden, hatten eines gemeinsam: Sie hatten niemals Wertsachen bei sich. Tod und Themse waren also Begriffe, die sozusagen Hand in Hand gingen.
    »Ich würde an Ihrer Stelle die Wache rufen, Miss Mary«, riet Dickens, im Begriff, Platz zu nehmen. Die Wirtin reagierte auf seinen Vorschlag mit einem Aufschrei, der ihn dazu brachte, sofort wieder aufzuspringen. »Das würde ich ja machen«, erklärte sie, »wenn es nicht ausgerechnet der junge Fred wäre, der die Leiche gefunden hat. Am Ende unterstellen die ihm noch, er hätte den Toten ausgeraubt. Deswegen dachte ich, vielleicht könnten Sie bezeugen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Einem Herrn wie Ihnen würden sie glauben.«
    »Fred ist Ihr Neffe, wenn ich mich recht entsinne.«
    »Ja, der Sohn meiner armen Schwester, Gott hab sie selig.«
    »Warum sollte ihm die Polizei unterstellen, er hätte den Toten ausgeraubt?«, fragte Dickens skeptisch.
    Die Wirtin blinzelte verunsichert. »Er hat doch nur geguckt, ob er irgendwelche Papiere bei sich hat. Um sich auszuweisen. Der Tote, nein, Fred, natürlich«, stammelte sie.
    Dickens hob spöttisch die linke Braue. »Ich nehme an, er hat keine Papiere gefunden … und auch keine Wertsachen?«, wollte er wissen.
    »Fred ist nicht einer von denen, Mr. Dickens«, beteuerte Miss Mary entrüstet. »Er arbeitet als Kahnführer und verdient gutes Geld!«
    »Mich würde folgendes interessieren, Miss Mary«, mischte sich Charley Collins ein. »Wie kommen Sie überhaupt auf die Idee, die Polizei würde jemanden verdächtigen, die Leiche geplündert zu haben? Schließlich werden zahllose Tote an Land gespült, die überhaupt nichts bei sich haben, weder Papiere noch Wertgegenstände.«
    Sein Schwiegervater nickte anerkennend. »Eine gute Frage, die eine Antwort verdient, Miss Mary.«
    »Naja, zum einen ist der Mann sehr gut gekleidet, und dann … Nun, Freddie meint, man hätte ihn wohl … äh … um die Ecke gebracht.«
    »Um die Ecke gebracht? Meinen Sie etwa ermordet?«, fragte Collins.
    »Fred sagt, man hat ihm den Schädel eingeschlagen.«
    »Aber warum sollte die Polizei Fred verdächtigen?«
    »Weil er letztes Jahr drei Monate im Kittchen saß«, räumte Miss Mary widerstrebend ein. »Die von der Polizei haben ein gutes Gedächtnis.«
    »Im Kittchen?«, wiederholte Collins ratlos.
    »Im Gefängnis«, erläuterte sein Schwiegervater. »Der Begriff ist vermutlich auf das rotwelsche Wort ›Kitt‹ beziehungsweise ›Kitte‹ zurückzuführen, was soviel wie ›Haus‹ bedeutet. Wie dem auch sei,

Weitere Kostenlose Bücher